IOC-Chef Bach zu Harting-Kritik: „Eine Entgleisung“
Lausanne (dpa) - Die Empörung über das IOC und Präsident Thomas Bach nach dem Verzicht auf einen kollektiven Bann Russlands von den Olympischen Spielen wird schärfer.
Auf die heftige Kritik von Diskus-Olympiasieger Robert Harting reagiert Bach im Interview der Deutschen Presse-Agentur deutlich und nennt sie „eine nicht akzeptable Entgleisung.“ Vorwürfe einer Befangenheit des IOC durch eine große Nähe zu Wladimir Putin weist der 62-Jährige zurück.
Seit der Entscheidung, russische Sportler doch bei den Olympischen Spielen starten zu lassen, stehen Sie massiv in der Kritik. Diskus-Olympiasieger Robert Harting sagte sogar: Ich schäme mich für ihn. Was sagen Sie dazu?
Thomas Bach:Es ist eine nicht akzeptable Entgleisung, wenn man jemanden, der nicht der eigenen Meinung ist, in derartiger Art und Weise beleidigt. All diejenigen, die so argumentieren, sollten berücksichtigen, wie viele diesen Entscheidungen zugestimmt haben. Kontinentalverbände, Athletenkommissionen; in der IOC-Exekutive war die Entscheidung einstimmig bei einer Enthaltung. Es gibt hier unterschiedliche Meinungen. Das muss man akzeptieren, das muss man austragen. Aber es ist nicht hinnehmbar, jemanden so zu beleidigen.
Die Kritik kommt aber nicht nur von Robert Harting, sondern aus allen Bereichen des Sports.
Bach:Das IOC hatte eine schwierige Entscheidung zu treffen. Wir mussten entscheiden zwischen der Bestrafung eines Systems und der Frage, inwieweit man Athleten für ein solches System verantwortlich machen kann. Und noch einmal: Wir sind bei dieser Entscheidung unterstützt worden von den Nationalen Olympischen Komitees dieser Welt, von der Vereinigung der Sommersportarten und auch von Athletenkommissionen. Wir haben uns für eine ausgewogene Lösung entschieden. Auf der einen Seite wird den russischen Athleten eine kollektive Verantwortung für dieses System auferlegt. Auf der anderen Seite setzt diese Lösung den Athleten sehr hohe Hürden, um darzulegen, dass sie nicht an diesem System beteiligt waren. Und diese Hürden beinhalten entgegen vielem, was man aktuell liest und hört, noch eine weitere Stufe: Denn über den Start eines Athleten entscheiden nicht nur die jeweiligen internationalen Fachverbände allein, sondern vor der endgültigen Entscheidung des IOC muss auch noch die Beurteilung eines CAS-Schiedsrichters eingeholt werden.
Athleten, Funktionäre, sogar die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA sprechen von einer Enttäuschung und von Verärgerung.
Bach:Zur Situation der WADA vielleicht so viel: Ich will hier keine Schuldzuweisungen vornehmen. Aber ich glaube, man muss darauf hinweisen können, dass die ganze Problematik hätte vermieden werden können, wenn die WADA im Jahr 2010 den entsprechenden Hinweisen von Herrn Stepanow (Ehemann und Trainer der russischen Whistleblowerin Julia Stepanowa, Anm. d. Red) nachgegangen wäre. Sogar im McLaren-Report der WADA steht, dass die WADA einen sogenannten Überraschungsbesuch im Moskauer Anti-Doping-Labor vorher angekündigt hat.
Aber was an dieser Entscheidung war so schwierig? Die olympische Charta verbietet politischen Einfluss auf Belange des Sports. Und in diesem Fall gibt es klare Belege dafür, dass ein Dopingsystem in Russland von staatlichen Stellen organisiert und Funktionäre von Politikern benannt wurden.
Bach:Das System muss sanktioniert werden. Die Frage ist: Inwieweit darf ich Athleten, die nicht Teil dieses Systems gewesen sind, dafür bestrafen? Das wäre der Fall gewesen, wenn man ihnen nicht die Möglichkeit gegeben hätte, ihren Einzelfall darzulegen. Die diesbezüglich von manchen geäußerte Meinung, man müsse die Bestrafung von unschuldigen Athleten als Kollateralschaden in Kauf nehmen, halte ich für zynisch und der Verantwortung des IOC für alle Athleten nicht angemessen. Es steht außer jeder Frage, dass das System an sich aufs Härteste bestraft werden muss. Hier haben wir erste Maßnahmen ergriffen, indem zum Beispiel kein Mitglied des russischen Sportministeriums, beim Minister angefangen, eine Akkreditierung für die Olympischen Spiele erhält. Wir haben eine Untersuchungskommission unter Vorsitz des vormals höchsten Richters Frankreichs eingerichtet. Diese Kommission wird die vom IOC geforderte Fortführung des McLaren-Reports begleiten, aber auch der anderen Seite die Möglichkeit geben, sich zu den Vorwürfen zu äußern, was bisher nicht der Fall war.
Wie soll eine solche Einzelfall-Überprüfung russischer Sportler in dieser kurzen Zeit noch funktionieren? Die Olympischen Spiele beginnen bereits in rund anderthalb Wochen?
Bach:Die internationalen Fachverbände sind zusammen mit der WADA 365 Tage im Jahr verantwortlich für das Anti-Doping-System. Das heißt: Sie haben alle Daten über Proben, biologische Pässe oder mögliche Strafe vorliegen. Die letzte Entscheidung wird das IOC nach Begutachtung des jeweiligen Falls durch einen vom CAS benannten unabhängigen Experten treffen. Und Sie sehen ja schon, dass eine Reihe von Verbänden, darunter Schwimmen, Rudern und Kanu, eine Anzahl russischer Athleten, darunter einen Olympiasieger, auf dieser Grundlage für nicht zulassungsfähig erklärt hat. Es ist ein ehrgeiziges Unterfangen, aber das IOC konnte nichts daran ändern, dass zwischen der Herausgabe des McLaren-Berichts und den Olympischen Spielen nur so wenig Zeit liegt.
Über allem steht der Vorwurf, dass Sie persönlich eine große Nähe zu Russland und Staatschef Wladimir Putin pflegen und die Entscheidung des IOC deshalb alles andere als unbefangen war. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Bach:Das muss ich strikt zurückweisen. Jeder, der die Fakten sieht, wird das anerkennen. Die Entscheidung ist einmütig in der IOC-Exekutive getroffen worden. Die fünf Kontinentalvereinigungen haben zugestimmt, die Vereinigung der internationalen Sommersportverbände ebenfalls. Ich bekomme täglich Briefe von Nationalen Olympischen Komitees, die ihre Zustimmung erklären. Man muss auch abwägen, was es bedeutet, dass einerseits viel Kritik aus dem politischen Raum kommt, während im Sport weltweit insgesamt eine große Einigkeit besteht, obwohl es natürlich auch im Sport andere Meinungen gibt.
Davon kann doch keine Rede sein, wenn man die Kritik so vieler Athleten und Funktionäre nimmt.
Bach:Einhundert Prozent Zustimmung bei einer solch schwierigen Frage wären verdächtig. Wir haben eine große Mehrheit für unsere Entscheidung im internationalen Sport. Es gibt insgesamt 206 Nationale Olympische Komitees. Dort gibt es weit mehr Befürworter als solche Stimmen, die gerne in der Öffentlichkeit zitiert werden.
Massiv kritisiert wird auch die Entscheidung, die Whistleblowerin Julia Stepanowa nicht in Rio starten zu lassen. Die Begründung lautete, dass sie nicht die „ethischen Standards“ an einen olympischen Athleten erfülle. Warum darf die Kronzeugin eines gigantischen Doping-Skandals nicht starten, nachgewiesene Doping-Sünder wie Justin Gatlin oder Tyson Gay aber doch?
Bach:Die Frage bei Julia Stepanowa war, ob ihre besondere Situation es rechtfertigt, eine Ausnahme von der weltweit verbindlichen olympischen Charta zu machen und sie als „neutrale Athletin“ starten zu lassen. Da dieses Verlangen nach einer Ausnahme ethische Gründe hatte, haben wir unsere Ethikkommission befragt. Die hat ausdrücklich den Beitrag von Julia Stepanowa im Kampf gegen Doping gewürdigt. Sie hat aber auch berücksichtigt, dass Julia Stepanowa nicht nur fünf Jahre Teil des Systems war, sondern aktiv mitgewirkt hat in diesem System. Sie hat ihre Informationen erst preisgegeben, als der Schutz des Systems nicht mehr funktionierte und als sie bereits eine Zweijahressperre erhalten hatte. All das zusammen hat die Ethikkommission bewogen, uns den Rat zu geben, dass aus ethischer Sicht diese Situation nicht ausreicht, um eine Ausnahme von der olympischen Charta zu erwirken.
Wenn es nicht einmal ausreicht, den laut WADA „größten Doping-Skandal aller Zeiten“ an die Öffentlichkeit zu bringen: Was muss jemand dann tun, um unter diese Ausnahme-Regelung zu fallen?
Bach:Das ist Theorie. Die Ethikkommission hatte den Fall Julia Stepanowa zu bewerten und hat dies unter Einbeziehung aller Pro- und Kontra-Argumente getan.
Die meisten großen Doping-Fälle der jüngsten Vergangenheit zeigen: Der Sport braucht Whistleblower, um solche Fälle ans Licht zu bringen. Haben Sie solche Kronzeugen mit der Entscheidung im Fall Stepanowa nicht völlig abgeschreckt und dem Anti-Doping-Kampf damit insgesamt einen großen Schaden zugefügt?
Bach:Es waren auch die Aussagen von Whistleblowern, die das IOC dazu bewogen haben, die WADA dazu aufzufordern, das Anti-Doping-System noch einmal grundlegend zu überdenken. Die ersten Hinweise kamen 2010 von dem Ehemann von Julia Stepanowa an die WADA. Das IOC hat in seiner Entscheidung zu Julia Stepanowa eine klare Ermutigung an Whistleblower ausgesprochen, indem wir ihr Unterstützung angeboten haben für ihre weitere Karriere als Athletin, damit sie sich möglicherweise wieder einem Nationalen Olympischen Komitee anschließen kann.
ZUR PERSON:Thomas Bach (62) ist seit September 2013 Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). 1976 wurde der Tauberbischofsheimer Olympiasieger mit dem deutschen Florettteam. Der Jurist war von 2006 bis 2013 Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).