Blamage nach großdeutschem Eigentor
Berlin (dpa) - Die Atmosphäre im Pariser Prinzenpark ist feindselig, der Zweite Weltkrieg wirft auch auf den Rängen seine Schatten voraus.
Das französische Publikum quittiert den Hitlergruß der großdeutschen Fußball-Nationalmannschaft beim Horst-Wessel-Lied mit einem gellenden Pfeifkonzert, werfen Eier und Tomaten aufs Spielfeld. Die folgende deutsche Blamage im Achtelfinale der Weltmeisterschaft 1938 gegen Außenseiter Schweiz war sensationell und logisch zugleich. Nach dem Anschluss Österreichs war für die Nazi-Funktionäre in ihrem großdeutschen Größenwahn der Titel schon ausgemachte Sache, aber die von oben verfügte Verschmelzung der Breslau-Elf mit dem „Scheiberl“-Fußball ergab nur ein Eigentor.
Wie aber kam es zum schlechtesten deutschen WM-Abschneiden? Die Nazis mit ihrem Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten verfügten: Aus zwei erfolgreichen Mannschaften musste eine großdeutsche entstehen. Das deutsche Team hatte im Mai 1937 in Breslau Dänemark mit 8:0 mit athletischem Tempofußball vom Platz gefegt und danach nicht mehr verloren. Österreich begeisterte mit Kurzpass-Technik, vergaß aber oft das Toreschießen.
Auf Anweisung von ganz oben musste der neue Reichstrainer Sepp Herberger sechs Deutsche und fünf Österreicher aufstellen - oder umgekehrt. Diese Gleichung konnte schon deswegen nicht aufgehen, weil beide Teams sich sowohl spielerisch als auch menschlich nicht verstanden. Berufsfußballer wie in Österreich galten in der Nazi-Ideologie als dekadent, deutsche Nationalspieler bekamen damals nicht einmal ihre Auslagen ersetzt - unterschiedlicher konnten Fußball-Philosophien nicht sein.
Beim sogenannten Vereinigungsspiel im April 1938 siegten die spielerisch klar überlegenen Österreicher mit 2:0 - und demütigten unter dem Jubel der Wiener Zuschauer die „Gäste“, indem sie demonstrativ beste Torchancen ausließen. Zuvor war beiden Teams nahe gelegt worden, „Rücksicht“ zu nehmen. So schoss der legendäre österreichische Mittelstürmer Matthias Sindelar in Strafraum völlig frei stehend den Ball Richtung Eckfahne. Sindelar weigerte sich später, jemals für Großdeutschland anzutreten.
Im WM-Achtelfinale schien die Schweiz eine leichte Hürde. Dem 1:1 nach Verlängerung - damals gab es noch kein Elfmeterschießen - folgte ein Wiederholungsspiel. Nach der frühen 2:0-Führung der Deutschen drehten die Eidgenossen das Spiel und gewannen 4:2. Auch weil Herberger nach dem Platzverweis des Wieners Johann Pesser zu weiteren Umstellungen gezwungen war und die Harmonie auf dem Platz einfach nicht stimmte. Diese Lehre vergaß Herberger nie, der Team-„Geist von Spiez“ beim deutschen WM-Sieg 16 Jahre später zeugte davon.
Weltmeister wurde erneut Italien. Und auch bei den Italienern spielte die Politik mit. Vor dem 4:2 im Endspiel gegen Ungarn kabelte der faschistische Diktator Benito Mussolini ins Teamquartier: „Siegen oder Sterben.“ Ungarns Torwart Antal Szabo reagierte: „Ich war noch nie so stolz wie jetzt. Wir haben elf Menschen das Leben gerettet.“
Zuvor hatte sich Brasilien im Halbfinale selbst geschlagen, indem es seine besten Spieler fürs Endspiel schonte und so gegen Italien 1:2 verlor. Schweden kam gegen das nicht mehr existente Österreich im Achtelfinale kampflos weiter und nahm danach Kubas Kicker 8:0 auseinander. Dass Niederländisch-Indien teilnehmen durfte, war auch der Absage Englands und der meisten südamerikanischen Teams geschuldet. Auswechseln war noch nicht erlaubt, so musste der tschechoslowakische Torwart Frantisek Planicka gegen Brasilien im Viertelfinale (1:2 n.V.) trotz eines Armbruchs durchspielen.