Das Tor, das keines war und ein „Kaiser“ im Königreich
Berlin (dpa) - Der Mann mit der Trikotnummer 10 dreht sich sechs Meter vor dem Tor und donnert den Fußball gegen die Lattenunterkante. Geoff Hurst fällt zur Seite, blickt im Liegen dem Ball hinterher, der vom Querbalken nach unten saust.
96 924 Zuschauer im Londoner Wembley-Stadion halten die Luft an, Englands Kicker jubeln, die Deutschen winken ab. Es ist die 101. Minute des WM-Finals 1966. Hurst schreibt im Spiel zwischen England und Deutschland Geschichte - mit einem Tor, das keines war. Dem Wembley-Tor.
89 Tore fallen bei dieser WM, aber keines ist so legendär wie der Hurst-Treffer zum 3:2 im Endspiel. Niemand sieht damals genau, ob der Ball hinter der Linie war, auch die Millionen Zuschauer an den TV-Schirmen nicht. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst wird von Linienrichter Tofik Bachramow aus der UdSSR überzeugt, der Ball sei drin gewesen. Dabei sieht Bachramow nur, wie die Briten jubeln, gibt er später zu. „Ich sah auch, dass der deutsche Torwart einen untröstlichen Eindruck machte. Deshalb muss es Tor gewesen sein.“
Was bei all der Dramatik um das Wembley-Tor häufig vergessen wird: Das stolze Fußball-England holte vor heimischem Publikum durch den 4:2-Finalerfolg - Hurst hatte kurz vor dem Schlusspfiff noch ein Tor nachgelegt - seinen ersten WM-Titel. Seinen einzigen, bis heute.
Vom 11. bis 30. Juli 1966 und damit ein knappes Jahrhundert nach der Gründung des weltweit ersten Fußballverbandes FA auf der Insel ist die Erwartungshaltung an das Team von Coach Alf Ramsey riesig. „Tut eure Pflicht und poliert unser ramponiertes Image wieder auf“, fordern die Fans, der erste große Titel für das „Mutterland des Fußballs“ ist oberstes Ziel. Selbst die royale Romanze zwischen Prinzessin Margaret und Peter Townsend gerät medial in den Hintergrund. Das Team um Bobby Charlton, Bobby Moore und Torwart Gordon Banks, „die Bank von England“ genannt, hält dem Druck stand.
Schlagzeilen machen nicht nur Engländer, sondern auch die Spieler von Bundestrainer Helmut Schön. Ein fast unmöglicher Winkel hält den Dortmunder Lothar Emmerich beim Vorrunden-2:1 gegen Spanien nicht davon ab, mit seiner „linken Klebe“ von der Torauslinie zu treffen. Und einer tritt ins Rampenlicht, den sie später die „Lichtgestalt des deutschen Fußballs“ nennen werden: Franz Beckenbauer. Ein „Kaiser“ im Königreich, der bei seiner ersten WM mit vier Toren bester deutscher Schütze nach Helmut Haller (6) wird. „Uns Uwe“ Seeler spielt sein drittes von vier Weltturnieren.
Weltstar Pelé wird von seinen Gegenspielern gnadenlos gefoult und scheidet enttäuscht mit Brasilien in der Vorrunde aus, das gleiche Schicksal trifft auch Italien. Den Platz als WM-Star nimmt dafür der Portugiese Eusébio ein: Mit neun Treffern wird der „Pelé Europas“ Torschützenkönig und mit Portugal WM-Dritter - und das bei der ersten WM-Teilnahme überhaupt.
Im Viertelfinale setzt sich Portugal mit 5:3 gegen Nordkorea durch - den Überraschungskickern der WM. Sie fügen Italien eine schmachvolle Niederlage zu und bringen auch die Gastgeber in die Bredouille: Weil die Briten keine Diplomatie mit dem kommunistischen Regime in Pjöngjang pflegen und deshalb Nordkoreas Hymne nicht spielen wollen, erklingt gar keine Nationalhymne bei der WM, sondern fröhliche Marschmusik. Nur zur Eröffnung ertönt Englands „God Save the Queen“ - wie auch nach der Siegerehrung durch Queen Elizabeth persönlich.
Was Queen, „Kaiser“ und alle anderen 1966 noch nicht wissen können: Nein, der Schuss von Geoff Hurst zum 3:2 war nicht im Tor, beweisen Studien der Videoaufnahmen Jahrzehnte später. Neben Englands einzigem WM-Titel sicherte der Treffer dennoch vor allem eines: Eine jahrzehntelange Fußball-Rivalität zwischen Deutschland und England.