Krise beim HSV: Depression und Größenwahn
Warum der Liga-Dinosaurier HSV inzwischen ein echter Kandidat für den Abstieg ist.
Hamburg. 48 Jahre und 214 Tage — die Zeitleiste in der Arena zählt die Zeit der Bundesliga-Zugehörigkeit, sie vermittelt den Stolz des HSV. Aber in schlechten Zeiten wie diesen ist sie nur noch eine Drohgebärde. 1:2 verlor der HSV in Wolfsburg, der Dinosaurier der Liga ist auf dem Relegationsplatz angekommen. Sieben Spieltage vor Rundenschluss.
Die Fakten sind ernüchternd: Fünf der jüngsten sechs Spiele verloren die Hamburger, die sich nach dem 1:1 in Gladbach gerettet fühlten. Hochmut, der ein Wesenszeichen dieser Krise ist: Noch im Wintertrainingslager in Marbella sprach Trainer Thorsten Fink von der Europa League: „Ich habe auch noch keinen Gegner gesehen, der eine Klasse besser war als wir — alles ist möglich.“ Großmannssucht, die zu Hamburg, nicht aber zur Tabelle passt. Umso größer ist die Depression.
„Ich halte es geradezu für fahrlässig, wenn man den jetzigen Tabellenplatz positiv verkauft“, sagt Günter Netzer als Kolumnist. Brandreden hält niemand. „Wir müssen nichts verändern“, sagte Trainer Thorsten Fink noch in Wolfsburg. Mit dem Kampfgeist seiner Truppe sei er zufrieden gewesen. Fink: „Nur die Tabelle macht mir Sorgen.“
Nicht ohne Grund, der Effekt des Trainerwechsels ist längst verpufft. Seit Fink den HSV Mitte Oktober übernommen hat, gab es in 18 Spielen 20 Punkte. Eine maue Bilanz des selbstsicheren Trainers, der zuletzt beim FC Basel einen modernen Offensivfussball gelehrt hatte, den sich Sportchef Frank Arnesen auch für seine verunsicherte Truppe wünschte.
Unter Vorgänger Michael Oenning fehlte jegliches System, da kam Finks Lehre gut an: Mit Ballbesitz das Spiel kontrollieren, mit neuer Auslegung des „Sechsers“ variantenreich das System wechseln. Das Prinzip ist modern: Der Sechser rückt bei eigenem Ballbesitz zwischen die Innenverteidiger, die eine Dreierkette bilden und so den Außenverteidigern die Möglichkeit zum Angriff geben.
Das klappte mit diesem Personal zum Ende der Hinrunde, danach ohne Dennis Aogo nicht mehr, auch weil sich die Gegner auf diese offensive Spielweise eingestellt hatten. Wie Wolfsburg: Der genesene Aogo verlor im Vorwärtsgang den Ball, Wolfsburg konterte mit drei Stürmern — und die unterbesetzte HSV-Abwehr war überfordert.
Im Prinzip wäre dieses Risikospiel kein Problem, wenn die Mannschaft nach vorne Erfolg hätte. In den zurückliegenden sechs Spielen hatte der HSV mindestens 56 Prozent Ballbesitz, aber kaum Torchancen. In Finks System müssten die Stürmer mit Steilpässen und schnellen Anspielen gefüttert werden — doch dafür fehlt das Personal, weder Rincon, noch Jarolim machen das Spiel schnell.
Zudem verfügt das Team über schlechte Kondition: Obwohl es am zweitwenigsten läuft, bekommt es in den letzten 20 Minuten die meisten Gegentore der Liga. Fink dazu: „Barcelona hat auch nicht die besten Laufwerte.“ Es ist vielleicht alles ein bisschen viel im Moment. Auch für Thorsten Fink.