BVB-Held Ricken: „Pro Jahr kommt ein Meter hinzu“

Dortmund (dpa) - Sein Tor im Champions-League-Finale 1997 hat längst Kultstatus. Mit dem ersten Ballkontakt wenige Sekunden nach seiner Einwechslung traf Lars Ricken damals zum entscheidenden 3:1 für Borussia Dortmund gegen Juventus Turin.

Im dpa-Interview spricht der einstige Profi und heutige BVB-Nachwuchskoordinator über sein „Jahrhunderttor“, über Trophäen im Wohnzimmer, über Bundesliga-Popstars, über Mario Götze und über die Chancen der Borussia im Endspiel gegen den FC Bayern am 25. Mai in London. Ein schickes Büro haben Sie. Aber wo hängen das Trikot vom Finalsieg 1997 oder das Foto von Ihrem legendären Treffer?

Ricken:„Ich bin nicht der Typ, der sich selbst beweihräuchert. Solche Sachen habe ich zu Hause auch nicht. Keine Ahnung, wo zum Beispiel das Trikot vom Finale ist. Ich muss es nach dem Spiel verschenkt haben, kann mich aber nicht erinnern. Das einzige, was ich zu Hause habe, ist der Champions-League-Pokal.“

Wie jetzt?

Ricken:„Den habe ich damals nachmachen lassen. Der macht sich im Wohnzimmer eigentlich ganz gut.“

Gleich mit Ihrem ersten Ballkontakt haben Sie als Einwechselspieler zum 3:1 getroffen. Wie nah geht Ihnen dieser Treffer heute noch?

Ricken:„Es ist nicht so, dass ich mir das Tor zwischendurch anschaue, wenn ich zum Beispiel schlecht drauf bin oder nicht gut schlafen kann. Ich habe das Tor auch nicht auf DVD. Ich glaube, ich habe es noch auf einer VHS-Kassette, aber keinen VHS-Rekorder mehr. Aber immer, wenn ich diese Szene aus München sehe, kommt mir ein wohliger Schauer über den Rücken.“

In Rückblicken wird der Treffer gern glorifiziert und Ihre Position als Schütze fast an die Mittellinie verlegt ...

Ricken:„Das ist interessant, pro Jahr kommt ein Meter hinzu. In zehn Jahren habe ich wahrscheinlich von vor der Mittellinie aus geschossen. Es kommt häufig vor, dass mich Leute ansprechen und sagen: Geil, wie du das Ding von kurz hinter der Mittellinie reingehauen hast. Aber in Wirklichkeit waren es nur etwa 25 Meter.“

Die BVB-Fans haben diesen Treffer anlässlich des Vereinsjubiläums zum Jahrhunderttor gewählt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Ricken:„Als Fußballer wollte ich immer etwas schaffen, was über meine Karriere hinaus Bestand hat. Ich war sicherlich immer ein Teamspieler. Aber diese Ehrung zum Jahrhundertschützen 2009 in der Westfalenhalle war ein Moment für mich. Das war der Augenblick, um einen Schlussstrich unter meine aktive Karriere zu ziehen. Das war für mich eine höchst emotionale Geschichte. Eines meiner absoluten Highlights, obwohl es nicht auf dem Platz stattgefunden hat.“

Haben Sie die Sorge, dass Ihnen am Samstag jemand den exponierten Platz in den Geschichtsbüchern streitig macht? Zum Beispiel, wenn Gündogan in der Nachspielzeit den Siegtreffer erzielt ...

Ricken:„Ich wäre der Erste, der ihn auf das Podest heben würde. Weil ich es großartig finde, wie positiv die Jungs den Namen Dortmund in die Welt tragen. Mein Tor und den Titel kann mir keiner mehr nehmen. Meine Geschichte ist geschrieben. Und für einen Verein wie den BVB ist es immens wichtig, dass neue Geschichten geschrieben werden.“

Reden wir über die Gegenwart. Sie sind mittlerweile Jugendkoordinator der Borussia und haben Mario Götze über Jahre begleitet. Wie schwer wiegt für die Borussia der Verlust?

Ricken:„Wir haben mit Barrios, Sahin und Kagawa Spieler verloren, von denen man dachte, sie nicht ersetzen zu können. Aber man hat sie mit Lewandowski, Gündogan und Reus sehr gut ersetzt und sich dabei sogar noch weiterentwickelt. Aber das wird bei Götze schwierig sein. Du kannst nach einem Nachfolger für ihn zwar weltweit suchen, wirst ihn aber nicht finden.“

Wie fördert man einen solchen Ausnahmekönner im Jugendbereich?

Ricken:„Hier stellt sich keiner hin und sagt, ich habe Mario Götze entdeckt und habe ihn so ausgebildet, dass er überhaupt diese Entwicklung nehmen konnte. Uns im Verein war schon relativ früh klar, dass er irgendwann einmal im Profibereich landen wird. Spieler wie er sind absolute Ausnahmetalente. Die kannst du allenfalls verhindern. Beispielsweise mit einem Trainer, der ihm die Lust auf das Fußballspielen nimmt.“

Ähnlich wie Götze waren auch Sie schon in jungen Jahren ein Star. Was können Sie mit den Erfahrungen von heute solchen Talenten mit auf den Weg geben?

Ricken:„Gar nichts. Die Zeiten sind nicht miteinander vergleichbar. Zusammen mit Mehmet Scholl war ich damals der erste Popstar der Bundesliga. Aber wir hatten keine Ahnung, wie man damit umgeht. Beim BVB gab es noch keinen Pressesprecher, meine Pressearbeit hat damals Ottmar Hitzfeld gemacht. Heute haben die Spieler eigene Berateragenturen mit Medienspezialisten. Darüber hinaus Vorbilder im positiven oder negativen Sinne. Sie wissen, wie sie sich in der Öffentlichkeit verhalten müssen, treten seriös und erwachsen auf.“

Götze ist im BVB-Team ein junger Spieler unter vielen. Sie waren 1997 einer der wenigen Jungspunde. Ist das der markanteste Unterschied zwischen beiden Teams?

Ricken:„Auch wir kamen über das Kollektiv, auch wenn wir herausragende Einzelkönner im Team hatten. Aber 1997 war die Entwicklung des Teams mit dem Endspiel zu Ende, obwohl wir ein Jahr später noch mal ins Halbfinale gekommen sind. Ich war 20, Stefan Klos 25 und der Rest um die 30 Jahre alt. Das ist diesmal komplett anders. Bei dieser Mannschaft hast du überhaupt nicht das Gefühl, dass irgendetwas zu Ende ist. Es sind noch große Sprünge möglich - sowohl als Team als auch bei jedem Einzelnen.“

Demnach haben Sie keine Sorge, dass es mit dem BVB ähnlich abwärts gehen könnte wie nach dem Titelgewinn von 1997?

Ricken:„Überhaupt nicht. Uns wird in diesem oder nächsten Sommer nicht die gesamte Mannschaft wegbrechen. Fast alle Profis haben längerfristige Verträge. Selbst wenn zum Beispiel Lewandowski gehen sollte. Diese Schulterzuck-Mentalität macht Dortmund momentan aus. Es heißt: weiter machen, den nächsten suchen und den Bayern auf den Fersen bleiben. Wir haben eine klare Philosophie.“

Das kommt in der Öffentlichkeit offenbar gut an. Laut Umfrage wünschen sich die meisten Deutschen einen BVB-Sieg. War die Borussia jemals populärer?

Ricken:„Schwer zu sagen. In den 90-er Jahren kam die Zustimmung über unsere Erfolge. Jetzt ist sie nachhaltiger und tiefer verwurzelt. Weil du mit Götze, Sahin, Großkreutz, Schmelzer und Reus fünf Spieler in der Mannschaft hast, die hier ausgebildet wurden oder in Dortmund geboren sind. Das wird auch überregional wahrgenommen. Außerdem haben wir einige Sympathieträger im Verein.“

Andererseits glauben die meisten Deutschen an einen Sieg der Bayern. Ist der BVB auch für Sie nur Außenseiter?

Ricken:„Der FC Bayern verfügt wahrscheinlich über den besten Kader seiner Vereinshistorie. Aber ich sehe keine großen Unterschiede. Die Münchner bekommen Götze, und sie wollen vielleicht Lewandowski. Aber in diesem Spiel treten sie für Dortmund an. Je größer die Bühne wird, desto mehr Bock haben sie. Das haben sie schon bewiesen. Das kann entscheidend sein.“

Vor der Halbfinal-Auslosung haben sich die Münchner die Dortmunder als Gegner gewünscht. Das zeugt nicht gerade von großem Respekt ...

Ricken:„Ich deute das anders. Dass man in München vielleicht auch ein bisschen Angst hat und versucht, es unter Kontrolle zu bekommen, indem man in die Offensive geht. Fakt ist, wenn eine Mannschaft weiß, wie man die Bayern schlagen kann, dann der BVB.“

Das klingt optimistisch. Welchen Tipp haben Sie für das Endspiel?

Ricken:„3:1 für die Borussia - das ist leicht zu merken.“

Und wenn es kurz vor Schluss noch 2:1 steht und die Bayern dem Ausgleich nahe sind, lassen Sie sich einwechseln ...

Ricken:„Besser nicht. Aber die andere, heutige Nummer 18 - Nuri Sahin.“