Mythos Wembley - Deutsche Spuren in Englands Heiligtum
London (dpa) - Die Fußgängerbrücke, die über die Eisenbahngleise zum Wembleystadion führt, wäre beinahe Dietmar-Hamann-Bridge genannt worden. Deutsche Fans hatten bei der Umfrage zur Namensgebung nach dem Stadionneubau 2006 soviel Wind gemacht, dass sie einer Mehrheit kurzzeitig nahe waren.
Der englische Fußballverband FA taufte die Brücke, über die jedes Jahr Millionen Fußballbegeisterter teils freudetrunken, teils bitter enttäuscht nach Hause gehen, schließlich White Horse Bridge nach einem Polizei-Schimmel. „Billy“ hatte 1923 beim ersten FA-Cup-Finale in Wembley die außer Rand und Band geratenen Fans heldenhaft im Zaum gehalten.
Es ist eine von vielen Anekdoten, die Wembley-Archivar David Barber aus seinen Geschichtsbüchern kramen kann. Sie zeigt auch, wie eng die Historie des englischen Fußball-Tempels mit dem deutschen Fußball verknüpft ist. Nicht nur, weil 1955 die Frankfurter Stadtauswahl im Messepokal-Spiel gegen London erstmals unter Flutlicht antrat, wie sich Barber erinnert. Oder weil Michael Ballack im FA-Cup-Endspiel 2010 vom gebürtigen Berliner Kevin-Prince Boateng mit einem rüden Foul die Bänder gerissen wurden. Es war kein Zufall, dass der englische Verband für das letzte Spiel auf dem Rasen des alten Wembleystadions die deutsche Mannschaft einlud. An den fast 80 Jahren Fußballgeschichte im Londoner Stadtteil Brent waren die Deutschen maßgeblich beteiligt.
Dietmar Hamann setzte im Jahr 2000 mit seinem Freistoß zum deutschen 1:0-Sieg nur den vorläufigen Schlusspunkt und einen Meilenstein als letzter Torschütze im alten Stadion. Im 2006 eröffneten Neubau mit dem markanten, über 300 Meter langen Bogen über dem Dach, sollte der deutsche Einfluss seine Fortsetzung finden.
1956 war es der Torwart von Manchester City, der von Wembley aus die Fußballherzen eroberte. Deutschland war amtierender Weltmeister und mit Bert Trautmann stand ein Deutscher zwischen den Pfosten beim Finalgegner von Birmingham City. Bei einem Zweikampf mit Peter Murphy wurde Trautmann schwer verletzt, spielte aber weiter. Erst drei Tage nach dem 3:1-Sieg seiner Mannschaft im Pokalfinale ergab eine Untersuchung, dass Trautmann 20 Minuten lang mit einem gebrochenen Genick gespielt hatte. Der zunächst verhasste Deutsche wurde in England als „Traut the Kraut“ zum Fußballhelden. In Manchester riss man nach seinem Rücktritt das Tor ab, weil nie wieder ein anderer zwischen Trautmanns Pfosten stehen sollte.
Zehn Jahre später war es der britische Nationalspieler Geoff Hurst, der Wembley zum Mythos machte. Sein Tor zum 3:2 für England im WM-Endspiel gegen Deutschland wird in der Fußballgeschichte unvergessen bleiben. Das „Wembley-Tor“, bei dem der Ball von der Unterkante der Latte auf den Rasen prallte, gilt bis heute als eine der umstrittensten Entscheidungen - und hat es als eigenständiger Begriff bis in den Duden geschafft. Selbst in England zweifelt heute kaum noch jemand daran, dass es eine Fehlentscheidung war.
Jedenfalls sollte die „Rache für Wembley“ ewig halten. 1996 mussten die englischen „Three Lions“ als Gastgeber im Halbfinale der Europameisterschaft klein beigeben. 7:6 hieß es am Ende für die Truppe von Berti Vogts, nachdem Andreas Möller den entscheidenden Treffer vom Punkt erzielt hatte. Die Niederlage im Elfmeterschießen gegen den Erzfeind haben die britischen Medien nie verdaut. Dass Oliver Bierhoff Deutschland wenige Tage später mit dem ersten Golden Goal auch noch zum EM-Sieg schoss, tat zusätzlich weh. 2000 verewigte sich dann mit Hamann ausgerechnet ein Deutscher als letzter Torschütze des alten Stadions. Es soll Auslöser für den Rücktritt von Nationalcoach Kevin Keagan gewesen sein.
2007 waren es in Christian Pander und Kevin Kuranyi wieder Deutsche, die mit ihren Toren für Joachim Löws Nationalmannschaft den Engländern die erste Niederlage im neuen Wembleystadion zufügten. Sechs Jahre später wird es eine deutsche Vereinsmannschaft sein, die die wichtigste Club-Trophäe Europas ausgerechnet zum 150. Geburtstag des nationalen Verbandes FA aus dem Allerheiligsten des englischen Fußballs entführt. Die Engländer können damit nur schwer umgehen: Es werde wohl das längste Elfmeterschießen der Wembley-Geschichte geben, spotten die Zeitungen.