Herbert Wimmer: Günter Netzers Wasserträger Das Wasser war Hacki Wimmer nie zu schwer
Ganz vorne wollte er nie stehen, wenn das Licht anging. „Hacki“ Wimmer verhalf anderen zum Leuchten. Er war Günter Netzers Wasserträger. Aber er war auch viel mehr. Ein Hausbesuch.
Aachen. Das Tor ist geschlossen. Herbert „Hacki“ Wimmer mag Fußball-Europa- und Weltmeister sein, aber jetzt steht er mit einem Fotografen und einem Reporter vor dem Eingangstor des Fußballvereins Borussia Brand in Aachen, Kreisliga B, absteigender Ast - und kommt hier nicht rein. Das Vereinsgelände wird bald verkauft, Wohnhäuser sollen hier entstehen. Das Eisentor aus den siebziger Jahren begrüßt hier niemanden herzlich, selbst Wimmer nicht. „Ich klingel mal“, sagt Wimmer und zeigt auf das Nachbarhaus. Der Eingangsschlüssel ist schnell beschafft, Wimmer ist hier noch immer eine große Nummer. Nicht wie ein Fußballstar, den man bewundert aus der Ferne. Eher wie ein alter Bekannter, den man seit Jahrzehnten mag. Der dann mal kurz weg war in der großen, weiten Welt. Und jetzt wieder zurück ist.
Dann stehen wir auf dem schlecht gemähten Rasen. Für ein Foto, das alles vereinigt: Hacki Wimmer in seiner Heimat in Aachen-Brand. Auf jenem Fußball-Platz, auf dem er groß geworden ist. In der Hand eine Wasserkiste. Er ist der Wasserträger von Günter Netzer. Bei Borussia Mönchengladbach. Und in der Nationalmannschaft.
Man kann das abgedroschen nennen, Wimmer als Wasserträger, das hat ihn schon viel zu lange begleitet, fürchtet man. Darf man diese Idee überhaupt an ihn herantragen? Man darf. „Ja, gut, machen wir“, hat er gesagt. Nicht mehr. Weil Wimmer Wimmer ist. Und wie seinerzeit im Fußball erledigen will, was erledigt werden muss. Viermal ist die Hüfte auf der rechten Seite operiert, ein neues Gelenk. Auch auf der rechten Seite, eine Operation, er ist bei einem Fahrradsturz draufgefallen. Aber Wimmer, 71, steht da mit seiner Wasserkiste wie eine Eins. Gerade, aufrecht, lächelnd. Nur wenn er läuft, hinkt er ein bisschen, ein Muskel wurde bei der Operation verletzt. „Man sagt es mir hin und wieder. Ich merke das gar nicht.“
Wasserträger? Es dauert zwanzig Minuten, bis wir darauf zu sprechen kommen, eine Stunde zuvor, bei Wimmer zu Hause in Aachen-Brand. Ein Klinkerhaus mit großer Rasenfläche dahinter, Spielgerüste für die Enkel. Wimmer, der Fußballer hat es selbst gebaut, damals, als er Fußballstar war. Jetzt sitzen wir in den Ledersesseln, 70er-Jahre-Stil, Eiche, an der Wand hängen Fotos der Familie, die drei Enkel, drei Jungs, 7, 4, 18 Monate. Der erste schon im Fußballverein, bei der DJK Rasensport Aachen-Brand. „Die sind an Borussia Brand vorbeigezogen“, sagt er, und es klingt wie eine Entschuldigung.
Als das Stichwort Wasserträger fällt, sagt Wimmer: „Ach, darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Wasser, gerne. Was denn bitte sonst? Die Geschichte muss doch rund werden.
Man kann ein Leben lang gegen diese Stereotype ankämpfen, Wimmer hätte einigen Grund dafür. Weil er eigentlich lange Flügelstürmer war, als er von Borussia Brand von seinem Förderer Hennes Weisweiler nach Gladbach geholt wurde. Zwei Probetrainings nur, der Vater hatte ihn gefahren, am Abend unterschrieb er. Und war fortan Stammspieler. „Weil ich auf meiner Position als Rechtsaußen keine Konkurrenz hatte“, sagt er. Natürlich. Ohnehin war er auch offensivstark. Aber Wimmer kämpft gar nicht gegen all das an. Warum auch? „Ich habe ja davon profitiert. Ich habe kürzlich mal gelesen, dass ich mit meiner Laufleistung, die ja heute bei jedem gemessen wird, noch mit vorne liegen würde“, sagt er. Und ist ein bisschen und so wunderbar bescheiden stolz.
Hacki Wimmer ist ein großer Fußballer, fünf Meistertitel mit Borussia Mönchengladbach in den Siebzigern. Er hat alles gewonnen: DFB-Pokal, Uefa-Pokal, Europameister 1972, Weltmeister 1974. 36 Länderspiele, vier Tore. Ein Leben voller Erinnerungen. Aber Wimmer hat sich für den Besuch des Reporters die eigene Karriere nochmal auf zwei Din-A-4-Zetteln ausgedruckt. Erstes Spiel auf Zypern 1968 auf einem Betonplatz. „Man vergisst ja doch einiges“, sagt er. Und erzählt, dass seine Nationalelf-Karriere erst begonnen hat, als er im Mittelfeld in Gladbach begann, die Wege zuzulaufen, die Netzer, das lauffaule Genie (das sagt er natürlich nicht, weil Wimmer so etwas nie sagen würde), offen gelassen hat. Der Positionswechsel als Karrierebeförderer, „als Rechtsaußen hätte ich beim DFB keine Chance gehabt.“ Was die Pause in der Nationalelf von 1968 bis 1971 dokumentiert. „Da habe ich nämlich wieder im Verein als Rechtsaußen gespielt.“
Wimmer war nie ein Treter, er lief nur. Und lief. Schlug Haken. Und gab dann nun Netzer den Ball. „Das musste man ja früher so machen. Immer zu Netzer, Man durfte nicht so viel mit dem Ball an ihm vorbeilaufen“, sagt Wimmer und lächelt. Wenn die beiden sich heute noch selten sehen, ist das „immer nett“, sagt Wimmer. Aber es ist eben auch selten. Richtige Freunde sind aus dem Geschäft Fußball, das mit dem Monatslohn von „1200 DM“ in Mönchengladbach begonnen hat, nicht geblieben. „Man freut sich, wenn man sie beim Treffen in Gladbach oder beim DFB sieht. Aber wenn man so weit weg wohnt...“ Ärger, sagt Wimmer, hat Wimmer nie mit einem Mitspieler gehabt. Man glaubt es ihm aufs Wort.
Klar wird das, als wir in die Kellerbar bei Wimmer zu Hause eintauchen. Holzvertäfelt, natürlich. Man ahnt, dass er hier nette Abende mit Freunden verbracht hat. „Viele Geburtstage“, sagt er. An der Wand hängen einige Erinnerungen an seine Karriere. Aber der Raum ist auch lange nicht mehr genutzt worden. An der Wand hängt ein Bild von den Europameistern 1972: Beckenbauer, Maier, Schwarzenbeck, Heynckes, Netzer, Müller, Höttges, Kremer, Breitner, Hoeneß. Und: Wimmer. Ein Moment Bewunderung. Wimmer steht davor, als könne er heute noch nicht glauben, damals beim Endspiel in Brüssel dabei gewesen zu sein. „Viele von ihnen haben ja große Karriere gemacht“, sagt er andächtig. Er nicht. Jedenfalls nicht im Fußballgeschäft. Trainer oder Manager, das sei nie ein Gedanke gewesen. Er sagt das, als hätte man ihn gefragt, ob er denn nun bald zum Mond fliegen würde. „Hier, der Schwarzenbeck, der ist auch bescheiden wie ich“, sagt er und zeigt auf „Katsche“, der mal einen Schreibwarenhandel in Bayern geleitet hat. Wimmer selbst hatte mit seinem Vater einen Tabakwarengroßhandel. Vor seiner Karriere schon, während der Karriere. Und danach. „Bis zur Euro-Umstellung, danach habe ich aufgehört“, erzählt er. Auch deswegen ist er nie raus aus Aachen-Brand. Jeden Tag gefahren nach Mönchengladbach. Zwölf Jahre lang. „Die Autobahn gab es damals noch nicht. Täglich zum Training über Landstraßen. Als ich meine Karriere beendet habe, war die Autobahn dann fertig. Die habe ich quasi mitgebaut.“
Die letzten fünf Jahre hatte er wegen des „ganzen Stresses“ nur noch Einjahresverträge gemacht, immer ohne Spielerberater, immer „eine halbe Stunde“ im Büro von Gladbachs Manager Helmut Grashoff. „Verhandelt habe ich nicht groß. Es gab immer ein bisschen mehr, wir hatten ja auch Erfolg.“ Immer war er auch bereit, kurzfristig aufzuhören, weil er beruflich abgesichert war. Aber es lief ja so gut. Bis 1978, nach dem legendären 12:1 gegen Borussia Dortmund und der Vizemeisterschaft hinter Köln. Dann war Schluss. Gladbachs Masseur Charly Stock hat ihm seinen letzten adidas-Schuhe von jenem Spiel in Düsseldorf vergoldet. Er steht in der Kellerbar. Angebote anderer Vereine, sagt Wimmer, hat es nie gegeben. „Wechseln war nie mein Metier. Wahrscheinlich wussten sie auch, dass ich ohnehin nicht gewechselt wäre.“
Was bleibt von so einem Leben? Die Titel? Weltmeister ist er mit der „Ländermannschaft“, wie er sie nennt. Aber er fühlt sich nicht so. Als verbiete es sein sportlicher Ehrgeiz. Weil er 1974 nur zwei WM-Einsätze hatte. „Ich war nicht richtig fit, hatte Achillessehnenprobleme, konnte in der Vorbereitung in Malente schon nicht befreit laufen. Zuerst hatte ich nur einen Kurzeinsatz. Nach der Niederlage gegen die DDR kam ich ins Spiel, aber gegen Jugoslawien musste ich wieder ausgewechselt werden. Das war es bei der WM.“ Wimmer blieb beim Team. Aber der Titel ist ihm fremd, viel fremder als der EM-Gewinn von 72. „Ich fühle mich nicht so ganz als Weltmeister.“ Nach der EM 1976 war Schluss in der Nationalelf. „Nach der Niederlage gegen die Tschecheslowakei gab es einen größeren Wechsel. Da war ich dabei.“ Einmal im Jahr trifft er sich im „Club der Nationalspieler“, jeweils bei einem Länderspiel, Wimmer ist immer dabei. Mit seinem Sohn fährt er auch zu jedem Heimspiel seiner Borussia. Die Tochter wohnt in der Wohnung über ihm, Wimmer ist allein, seit seine Frau Renate vor zwei Jahren gestorben ist. Ein Tiefschlag, jederzeit spürbar. Als wir darüber sprechen stockt er, 40 Jahre Ehe, dann kam der Krebs, der verfluchte. Als die beiden geheiratet haben, war ganz Aachen-Brand auf den Beinen. Wimmer erinnert sich daran, als wir später auf dem Rasen seines Heimatclubs stehen. „Schulklassen wehten mit Fähnchen“, sagt er, die Augen glänzen dabei, die Erinnerungen machen etwas mit dem unfassbar sympathischen „Hacki“. Dann nimmt er seine Wasserkiste in die Hand und läuft über das Grün. Der Fotograf gibt die Kommandos. Und Wimmer folgt bewundernswert geduldig, 15 Minuten, noch einmal Wasserträger. Überhaupt nicht albern. Weil er so ist, wie er ist.