Béla Réthy im Interview: „Klopp schreibt SMS während des Spiels“
Am Sonntag kommentiert Béla Réthy das EM-Finale. Ein Gespräch über 30 Millionen Zuschauer, herbe Kritik an Kommentatoren und den Bundestrainer Löw
Düsseldorf. Béla Réthy kommentiert seit 18 Jahren bei allen großen Turnieren. Am Sonntag steht für ihn das EM-Finale in Kiew zwischen Italien und Spanien an. Ein Gespräch über 30 Millionen Zuschauer, herbe Kritik an Kommentatoren und den Bundestrainer Löw.
Herr Réthy, wenn Sie am Sonntag das EM-Finale kommentieren, dürften 30 Millionen Zuschauer dabei sein. Was macht diese Zahl mit Ihnen?
Béla Réthy: Ob das 25 oder 35 Millionen sind — es sind viele, viele Menschen. An die darf man nicht denken, dann wird man ja verrückt. An die Zuschauerzahl denkt man komischerweise wirklich nicht. Eigentlich sind solche großen Spiele sogar einfacher. Bei der WM 2006 habe ich mal Saudi-Arabien gegen die Ukraine gemacht, das ist etwas anderes. Das Gute: Es gibt von der Arbeitstechnik her nie einen Unterschied.
Gibt es für Sie wie für den Bundestrainer Löw so etwas wie einen EM-Tunnel?
Réthy: In der Vorrunde viel mehr als bei den K.O.-Spielen, weil alles dicht aufeinander folgt. Alles ist noch neu, jede Mannschaft irgendwie unbekannt. Danach wird der Tunnel heller. Man ist sehr viel auf dem Zimmer, liest viel, ich sehe auch alle Spiele. Es ist aber auch mal gut, sich gedanklich nicht damit zu beschäftigen. Ich bin jetzt einige Tage in Warschau, war in der Altstadt, im Museum, habe mal einen Roman gelesen. Dann lösen sich die Blockaden. Wenn man nur an Fußball denkt, wird man verrückt.
Ihr Erfahrungsschatz ist gewaltig.
Réthy: Seit 1994 ist es das zehnte Turnier als Live-Reporter. Und es wird das fünfte Finale sein. Mein erstes Spiel war bei der WM 1994, Schweiz gegen USA, 11 Uhr vormittags in Detroit. Ein Meilenstein für mich.
Ist dieser Beginn die schönste Erinnerung?
Réthy: Das war der Tag in Mainz, als Karl Senne mir mitteilte: Du bist als Kommentator dabei. Wenn Du als Fußballer in der Bezirksklasse anfängst, willst Du Nationalspieler werden, wenn Du als Reporter 30-Sekünder von Judo und Bogenschießen zusammenfasst, möchtest Du mal Deine wahre Liebe ausleben. Für uns ist das der Olymp. Prägend war auch die WM 1986 in Mexiko, wo ich Redakteur und Assistent von Rolf Kramer war — und die Brasilianer betreute. Mit Zico und Sokrates, diese große Elf. Auch 1990 in Italien mit Marcel Reif, an dessen Brust ich genährt wurde, war toll.
Wie verläuft für Sie der Tag des Endspiels?
Réthy: Mit möglichst viel Ruhe. Am Samstag reise ich an, gehe noch zur Abchluss-Pressekonferenz für frische Eindrücke. Am Spieltag selbst: Frisch machen, letzte News durchgehen, Homepage der Verbände, Blick in ausländische Zeitungen, ich lese etwa gerne den „Guardian“. Dann Mittagessen, auf die Couch, einen Spielfilm gucken und abschalten.
Gibt es vor so einem Spiel auch eine gewisse Angst?
Réthy: Ich habe schon so viel erlebt. Den Bildausfall 2008 im EM-Halbfinale von Basel, jetzt den Regensturm von Donezk. Ich dachte immer, es kann nichts mehr passieren. Aber dafür sind wir auch da. Zehn Turniere reichen. Und ich werde nie mehr meine Muttersprache verlieren.
War der Regen von Donezk ihr persönlicher EM-Höhepunkt?
Réthy: Ich fand das amüsant. Es hat sich allerdings ein bisschen gezogen, ich habe dann meinen Assistenten Martin Schneider miteingebaut, mit dem ich seit 1995 zusammenarbeite, ein guter Freund. Wenn mir einer gesagt hätte, jetzt redest du 57 Minuten über Regen, hätte ich ihn ausgelacht. Aber es ging, das Problem war eher dann wieder umzuschalten, weil doch noch Fußball gespielt wurde. Ich hatte kaum noch Unterlagen, sie waren nicht mehr lesbar.
Wie haben Sie die Reaktionen danach aufgenommen?
Réthy: Es gab die ganze Palette von Meinungen. Wie immer. Einige fanden es super, andere langweilig.
Der Boulevard hat Sie während des Turniers mal zum besten Kommentator gewählt, dann wieder zum schlechtesten. Nehmen Sie das wahr?
Réthy: Ich habe mich kaputt gelacht. Das ist ein Zeichen davon, dass man am ehesten wahrgenommen wird, weil ich lange dabei bin. Das hat keine inhaltliche Komponente. Und: Man sollte Kritik nicht kritisieren. Im ersten Moment habe ich mich erschrocken, dann fiel mir ein: Moment, ich war doch gerade zum Besten gewählt worden. Das hat wohl eher kabarettistischen Effekt.
Trotzdem nimmt die Kritik an Kommentatoren in vieler Form zu. Auch an Ihnen.
Réthy: Es ist ein Sport geworden, unsere Arbeit zu bewerten. Umgekehrt kämen wir nie auf die Idee, die Arbeit der Printjournalisten zu bewerten. Jeder macht seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen. Diese Menschen richten über das live gesprochene Wort. Dazu hätte ich nicht das Naturell.
Das ZDF wurde vor allem für seine Sendung auf Usedom mit Katrin Müller-Hohenstein und Oliver Kahn angegriffen. War das eine gute Entscheidung?
Réthy: Das war eine Grundsatzentscheidung. Wir wollten Public-Viewing machen, zu einer solchen Sendung gehört ein deutsches Publikum, deshalb diese europäische Lösung. Man kann darüber diskutieren, das ist legitim, aber ich finde die Häme absolut unangemessen. Und es gibt einen riesigen Unterschied zwischen der Meinung von Millionen von Zuschauern und der Einzelmeinung von Journalisten, die als Multiplikatoren herhalten. Mir fehlt bei dieser Kritik die Konstruktivität. Das ist beleidigend und hämisch — und damit auch entwertet.
Im Internet gibt es sogar die Möglichkeit, Kommentare abzuschalten und auf Hobby-Kommentatoren zurückzugreifen. Muss man als Kommentator ein dickes Fell haben?
Réthy: Da wurde dann wieder geschrieben, dass man sehr froh sei, uns zu haben. Was da rausgekommen ist, muss eine Katastrophe gewesen sein. Der Job ist eben nicht so einfach. Vor Jahren wurde Fernsehkritikern Bilder ohne Live-Kommentar vorgespielt, sie sollten mit unseren Unterlagen kommentieren. Das hätten Sie mal hören müssen. Ich plädiere für mehr Respekt. Aus 120 Minuten wird ein Halbsatz rausgefischt, den finden Sie immer. Wir sind ja keine Maschinen.
Was macht für Sie einen guten Kommentator aus?
Réthy: Stimme, Ausdruckskraft, variabel im Vokabular. Wie ein Schiedsrichter: Wenn er nicht groß auffällt, hat er einen guten Job gemacht. Er ist nicht der Mittelpunkt, nicht wichtiger als das Spiel. Er ist ein Vermittler. Und dann gehört ein Timing dazu. Wenn ein Spiel abebbt, muss man mehr sprechen, sonst kann man auch mal schweigen. Vielleicht ist es der einzige Job, in dem man sich immer verbessern kann. Früher konnte man Gedanken länger ausführen, jetzt sind die Bildschnitte schneller, man muss wacher sein.
Hat sich Ihr Stil verändert?
Réthy: Am Anfang hat man versucht, sauber durchzukommen, auf kein Gegentor zu spielen. Jetzt bin ich offensiver, auch meinungsfreudiger, weniger vorsichtig.
Klassische Situation: Elfmeter oder kein Elfmeter, was sagen Sie?
Réthy: Warten. Oder ich mache gern einen Workshop. Ich sage: meine erste Wahrnehmung ist Elfmeter. Ich lege mich auch gerne fest, wenn es schief geht, entschuldige ich mich. So, wie die Leute es auch vor dem Fernseher denken.
Erhalten Sie Rückmeldungen von Fußballern, dem DFB oder Verantwortlichen?
Réthy: Noch nie passiert. In den 90ern hat Mehmet Scholl mal eine Anfrage eines Kollegen mit dem Hinweis abgelehnt: ,Fragen Sie mal den Réthy.' Ich hatte ihn in einem Länderspiel gegen Armenien ob seiner Querpässe kritisiert, er hat mir dann erklärt, dass seine taktische Aufgabe die Absicherung von Thomas Häßler gewesen sei. Wir haben uns längst ausgesprochen, inzwischen sind wir Kollegen. Befreundet bin ich seit vielen, vielen Jahren mit Jürgen Klopp. Er schickt uns auch des öfteren SMS während des Spiels, mit denen er uns auf bestimmte Details aus dem jeweiligen Spiel hinweist.
Gibt es einen Draht zu Joachim Löw?
Réthy: Während des Turniers nicht, da bekommen wir keine Informationen. Außerhalb von Turnieren schon, da nimmt er sich auch mal eine Stunde Zeit für ausführliche Gespräche. Leider nicht zu dem Zeitpunkt, an dem es wichtig ist.Ich halte seine Arbeitsweise, seine Ideen, diesen Fußball für sehr gut. Und er ist ein angenehmer Mensch. Man muss nur den Kader sehen - welche Variationsbreite. Es ist in der Breite der beste deutsche Kader aller Zeiten. Und das ist die Note 1 für einen Trainer.
Hat Sie diese Europameisterschaft beeindruckt?
Réthy: Organisatorisch und landeskundlich dasselbe wie immer: Alle Unkenrufe wurden widerlegt. Von diesen Szenarien, die in Deutschland beschrieben werden, habe ich auch genug. Ich nenne das Wirtschaftsrassismus. Immer mit diesem arroganten Ansatz, wir können alles besser. Das ist eine Unverschämtheit. Es war nicht so. Südafrika war ein großartiges Turnier, hier war es ein richtig gutes. Ohne Pannen, die Stadien waren zu 98 Prozemnt ausgelastet. Sportlich unspektakulär, aber interessant. Und für das Wetter können die Gastgeber nichts. Es gab nicht so viele neue Erkenntnisse. Aber die individuelle Klasse der Spieler hat zugenommen. Es gibt nicht mehr ein so großes Gefälle.
Wann kommentiert Béla Réthy zum letzten Mal ein großes Turnier?
Réthy: Brasilien, die WM 2014, ist ein Muss. Und wenn ich den Sender wechsele (lacht). Aber vielleicht verändert sich die Szene so, dass meine Art nicht mehr gefragt ist. Diesen Zeitpunkt möchte ich vorher erkannt haben. Ich habe noch drei Turniere im Hinterkopf: 2014 Brasilien, 2016 die EM in Frankreich, 2018 WM in Russland. Danach bin ich 61. Und dann schauen wir mal.