#Euro2016 Der Nachhintendenker

Thomas Müller kennt den Schlüssel zum Erfolg gegen Italien und sucht Bestätigung auf ungewohntem Terrain.

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Évian-les-Bains. Die Vergangenheit interessiert ihn nicht. 1970? 1982? 2006? 2012? „Es zählt das Hier und Jetzt“, sagt Thomas Müller. Vor dem Viertelfinale der Europameisterschaft am Samstag in Bordeaux gegen Italien, will der Stürmer ohne Tore nichts wissen von vergangenen und verlorenen Duellen gegen die Squadra Azzurra bei großen Turnieren. „Deutschland hat gegen Italien dort noch nie gewinnen können. Aber das hat mit künftigen Spielen nichts zu tun. Das ist Geschichte.“ Jetzt sei ein „guter Zeitpunkt, um diese Serie zu durchbrechen“, sagt Müller, „die Basis stimmt, wir sind gut in Form.“

Zukunftsgewand, das ist seine Art. Neue Ziele. Neue Reize. Für Leistungssportler zählt immer nur der nächste Wettkampf, und es war ja Thomas Müller selbst, der sich erst vor wenigen Wochen in einem Gespräch in der Interviewkammer des Medienzentrums in Évian selbst mit diesem Wort charakterisiert hat: „Ich bin ein Nachvornedenker.“ Da hatte die Europameisterschaft noch nicht begonnen. Doch jetzt, nach bislang vier Spielen, muss der Offensivspieler seine Bestätigung und sein Selbstvertrauen aus anderen Quellen schöpfen als üblich. Der Torfluss, so scheint es, ist versiegt. Der Stürmer, der bei den Weltmeisterschaften 2010 und 2014 jeweils fünf Treffer erzielt hatte, dem in 75 Länderspielen 32 Buden gelungen sind, zieht seine Erfolgserlebnisse aus der Defensivarbeit.

„Es macht Spaß“, sagt er, in der Abwehr mal einen Ball rauszuköpfen. So ist im Spiel aus Thomas Müller doch ein Nachhintendenker geworden. Er ist im Achtelfinale knapp zwölf Kilometer gerannt. Er geht die langen Wege. Er wechselt ständig die Position. Er stibitzt dem Gegner den Ball vom Fuß wie ein Verteidiger. Vielleicht war der 26-Jährige vom FC Bayern München noch nie so mannschaftsdienlich wie in diesen Tagen in Frankreich.

Nur selbst treffen, das gelang ihm bislang eben nicht. Thomas Müller ist klug. Er weiß, er wird an Toren gemessen. Deshalb begegnet er der Diskussion mit Pragmatismus: „Torschützenkönig ohne Titel zu sein, was würde mir das nützen?“ Die Situation nage nicht an ihm, sagt er. „Ich bin sehr entspannt“, und in der Tat wirkt er auch an diesem Vormittag alles andere als verkrampft. „Wenn wir so auftreten wie bislang, dann ist es eine Freude, in dieser Mannschaft zu spielen.“ Wer aber um seinen Ehrgeiz weiß und um seinen Drang, selbst jeden Trainingskick, jeden Schafkopf, jedes Golfspiel gewinnen zu wollen, der ahnt, dass er da eben doch eine kleine Rechnung offen hat mit sich selbst.

Vielleicht kommt die Explosion gegen Italien. Bei einem Müller, diesem Fußballschlitzohr ohne Gleichen, muss immer mit allem gerechnet werden. Dieses Viertelfinale wäre wie gemacht für ihn. Große Bühne. Vor vier Jahren, als der Bundestrainer ausgerechnet im EM-Halbfinale auf sein Unikum verzichtete, ging das Spiel gegen Italien 1:2 verloren. Jetzt könnte Müller der Mann sein, der die Pose des Schmachs aus der deutschen Erinnerung tilgen könnte: den nackten Oberkörper des damaligen Torschützen Mario Balotelli.

Thomas Müller freut sich auf das Spiel. Das ist ihm anzusehen, und das ist rauszuhören aus seinen respektvollen Worten: „Ich spiele gerne gegen Italiener. Das sind gute Typen und Sportsmänner, und wenn’s mal gerumpelt hat, dann helfen sie einem auf.“ Mit den Klischees kann er nichts anfangen: Rustikaler Abwehrriegel? Ein Andrea Pirlo beispielsweise habe eher mit „einem feinen Füßchen als mit der Rasierklinge gespielt.“ Ständige Bewegung in den Grauzonen des Erlaubten? Geschenkt für einen wie Müller. „Ich verlange auch von mir und meinen Mitspielern, dass wir bei einer 1:0-Führung zwei Minuten vor Abpfiff nicht zum Einwurf sprinten und dem Balljungen den Ball aus den Händen reißen.“

Der Angreifer erwartet ein enges, ein heißes, ein schönes Spiel gegen eine Mannschaft, „die sich richtig reinhaut“. Das Italien 2016 habe klare Strukturen, eine eingespielte Abwehr und „Automatismen offensiv wie defensiv. Jeder weiß, wo der Mitspieler steht. Sie verteidigen als Mannschaft“, sagt Müller, „aber sie sind nicht undurchdringbar.“ Er glaubt, dass der Schlüssel zum Erfolg im Ballbesitz liegt. „Wir müssen gutes Pressing spielen, dann ist oft ihre einzige Lösung ein langer Ball. Wenn wir da gut vorbereitet sind, werden wir viele Balleroberungen haben, nach denen es schnell gehen kann.“ Das Team von Antonio Conte würde einen hohen Aufwand betreiben. Geduld könnte gefragt sein, denn irgendwann würde Müdigkeit einsetzen, „dann werden sich Räume ergeben“.

Und Müller? Er wird sich wieder in den Dienst der Mannschaft stellen. Er wird ackern. Er wird rennen. Er wird Positionen wechseln. Er wird nach vorne denken und nach hinten. Vielleicht wird er auch ein Tor schießen. „Ich würde mich nicht wehren“, sagt Müller. Im Training am Mittwoch hat er schon mal getroffen.