Wales - Portugal Die Sache mit dem Stammbaum

Allein neun walisische Nationalspieler haben englische Wurzeln / Britische Presse kramt die Familiengeschichte jetzt wieder hervor

Ashley Williams spielt nur wegen seiner walisischen Großmutter im Nationalteam.

Foto: Laurent Dubrule

Lyon. Es schien lange höchster Geheimhaltung zu unterliegen, wen die walisische Nationalmannschaft bitteschön am Tag vor dem großen Spiel, im Uefa-Jargon MD-1 (Matchday minus one) genannt, zur Pressekonferenz ins Stade de Lyon schicken würde. Außer Teamchef Chris Coleman einen Spieler, hieß es. Vielleicht lag die unklare Nachrichtenlage daran, dass erst noch am Morgen im Teamcamp in Dinard in der Bretagne trainiert wurde, ehe der Flug in die drittgrößte Stadt Frankreichs ging. Letztlich hat sich denn am Nachmittag mal wieder Kapitän Ashley Williams erbarmt, um über das historische Halbfinale gegen Portugal (Mittwoch 21 Uhr) zur internationalen Presse zu sprechen. Wofür ist der Mann denn auch Kapitän? Und außerdem taugt der 31-Jährige ja als Sinnbild für eine prägende Hälfte des Aufgebots. Geboren ist die Nummer sechs nämlich in Wolverhampton. England. Genau wie acht weitere Akteure: Hal Robson-Kanu (London), Sam Vokes (Southampton), James Chester (Warrington), Andy King (Devon), Dave Edwards (Shropshire), Jonny Williams (Kent), George Williams (Milton Keynes) und Simon Church (Buckinghamshire).

Dass Ashley als einer von vier Spielern mit Nachnamen Williams dabei ist, hat genau damit zu tun. Denn im Auftrag des Fußball-Verbands (FAW) fahndet Brian Flynn nach Spielern mit walisischen Wurzeln. Der U21-Nationalcoach hat angeblich damals nur Stockports Torhüter Wayne Hennessey beobachten wollte, und dann fiel ihm eben der breitschultrige Abwehrmann mit dem walisischen Namen auf. „Er rief bei Stockport an und frage, ob ich zufällig walisische Vorfahren habe. Sie fragen mich, und ich habe ‚Ja‘ gesagt“, erzählt er kürzlich.

Sein Großvater Bill stammte als Rhondda, einem ehemaligen Bergbaugebiet in Südwales. Und außerdem spielt er ja auch beim passenden Verein: Swansea City, der walisische Vertreter in der Premier League. Der Klub, den auch Coleman einst als jüngster Teamchef in Englands höchster Spielklasse betreute. Die britische Presse hat all diese Geschichten nun wieder hervorgekramt, da jüngst gegen Belgien alle drei Torschützen — Ashley Williams, Robson-Kanu und Vokes — eigentlich ja Engländer seien. Auch Vokes‘ Kapitel mutet kurios an: Er wusste gar nichts von seinen Vorfahren, bis Flynn herausfand, dass sein Großvater Mike als Colwyn Bay kommt, ein Seebad im nördlichen Wales. Und natürlich fragen sich nun vor allem die ernüchternten englischen Fußballfans: Wie kann ein listiger Nachbar aus Ergänzungsspielern, Mitläufern oder sogar Reservisten aus ihrer Luxusliga bloß eine Nationalmannschaft formen, die erreichen kann, was Three Lions seit 50 Jahren nicht mehr geschafft haben: ein Finale.

Es heißt inzwischen, in England sei Stammbaum-Schnüffler Flynn fast so gefürchtet wie einst Erdal Keser mit seinem Deutschland-Büro, um türkischstämmige Nationalspieler zu überzeugen, den Halbmond zu tragen. Der ehemalige Nationaltrainer John Toshack, der von 2004 bis 2010 die Waliser betreute, hat einmal gesagt: „Brian ist brillant darin. Wenn dein Hund walisische Vorfahren hätte, würde Flynn es wissen.“ Gut nur, dass die Fahndung in die Gegenrichtung bislang ausgeblieben ist. Gareth Bale hätte sich als Enkel einer englischen Großmutter auch für die englische Auswahl entscheiden können. Auf die Idee ist nur niemand gekommen. Und Bale hat seinen Entschluss auch niemals bereut. In der nächsten Fifa-Weltrangliste wird Wales unter den Topten auftauchen. England nicht. Und Coleman wird deren Misere auch nicht beheben: Er gleich schon mal ausgeschlossen, als Kandidat überhaupt infrage zu kommen. Das musste auch gar nicht geheim bleiben.