Frankreich - Deutschland Dimitri Payet: Plötzlich Frankreich Hoffnungsträger
Frankreichs Dimitri Payet brauchte lange, um als Profi den Durchbruch zu schaffen.
Clairefontaine. Zugegeben, den derzeitigen EM-Torschützenkönig Antoine Griezmann hatte man schon vor dem Turnier auf der Liste — einen Paul Pogba ebenso. Aber die Franzosen besitzen noch einen weiteren Top-Hoffnungsträger vor dem Halbfinale gegen Deutschland. Sein Name: Dimitri Payet.
Es war in der vergangenen Saison der absolute Hit im Londoner East-End. „We’ve got Paaayeeet“ sangen sie dort immer wieder im traditionsreichen Upton Park — mit einer Mischung aus Stolz, Dankbarkeit und Begeisterung. Mittlerweile sieht es jedoch stark danach aus, dass dies die Fans von West Ham United in der neuen Spielzeit unterlassen können. Beziehungsweise müssen, denn ihr unumstrittener Liebling, ihr uneingeschränkter Held dürfte 2016/17 höchstwahrscheinlich ein anderes Trikot tragen. Dass Payet bei der EM-Endrunde so dermaßen durchstartete, ganz Europa mit seiner Art zu Kicken verzauberte — für die Hammers aus der nicht gerade angesagtesten Gegend der englischen Hauptstadt erweist es sich tatsächlich wohl als Bumerang. Sie werden ihren Topstar kaum halten können.
„Wir müssen realistisch sein. Wenn der FC Barcelona oder Real Madrid ein Angebot machen und Dimitri dorthin wechseln will, wird es schwer, ihn zu einem Bleiben zu bewegen“, sagt West-Ham-Chef David Gold. Extrem nachdenklich tut er das, fast schon traurig: „Man kann leider nicht so einen tollen Spieler wie ihn haben und glauben, dass keiner für ihn bieten wird — vor allem nach den phänomenalen Leistungen, die er aktuell im Nationaltrikot zeigt.“
Nun gut — Payets Berater Jacques-Olivier Auguste wiegelt sofort ab („Dimitri ist glücklich in London, Er hat einen tollen Vertrag bei West Ham United — also glaube ich nicht, dass er wirklich gehen möchte“). Zudem ist das Offensiv-Ass bereits stolze 29 Jahre alt. Andererseits liegt sein derzeitiger Marktwert, bei dem die Ostlondoner schwach werden könnten, wohl „nur“ bei geschätzten 53 Millionen Euro — was für absolute Größen des Weltfußballs quasi ein Schnäppchen darstellt.
Inzwischen liegen ja auch die Franzosen ihrem Payet zu Füßen. Dank seiner drei Treffer, seiner zwei Torvorbereitungen bei der bisherigen EM-Endrunde. Und aufgrund der Tatsache, dass er so herrlich anders ist als ein Großteil seiner Berufskollegen. Es soll ja sogar böse Zungen geben, die bei ihm einen Bauchansatz erkannt haben wollen. Der 29-Jährige — nicht austrainiert? Natürlich Quatsch. Der auf Réunion, dem französischen Überseedépartement im Indischen Ozean geborene Payet sieht Fußball eben nur als das, was es eigentlich auch sein sollte: als Spiel, das Spaß macht. Beziehungsweise als gute Gelegenheit, seine eigene Kreativität einzubringen — nicht immer eingepresst in fantasielose Trainerkonzepte.
Prompt eckte der Freigeist immer wieder auch an. Das ging schon los, als er 1999 erstmals auf das französische Festland wechselte, zum AC Le Havre: Normandie statt Heimat, knallharte Disziplin statt selbstständige Entfaltung — Payet gefiel’s nicht. Und der Verein schimpfte ebenfalls sehr schnell, warf dem Talent fehlende Motivation vor. Anders ausgedrückt: Das Ganze entwickelte sich bald zu einem Riesenirrtum beiderseits — und so ging der Offensivakteur nach vier Jahren zurück auf Réunion. Schön für den dortigen AS Excelsior Saint-Joseph und dessen Fans, für die er dann sensationell aufspielte.
Aber so einen begnadeten Kicker irgendwo im Indischen Ozean, rund 700 Kilometer östlich von Madagaskar versauern lassen? Das ging nun wirklich nicht. Also erbarmte sich der FC Nantes, verpflichtete ihn 2004 zumindest für seine Amateurtruppe — und weil es da mit Stephane Moreau endlich auch einen Chefcoach mit Sympathien für Payet gab („Dimitri ist der beste und talentierteste Spieler, den wir besitzen — trotz seiner wohl natürlichen Gleichgültigkeit“), schaffte er nun endlich den Durchbruch. Zumindest einigermaßen.
Weitere Engagements in der heimischen Ligue 1 folgten — ohne dass Payet zu einem pflegeleichten Typen wurde. So kam’s während seiner Zeit bei AS Saint-Étienne vor, dass er zwei Teamkameraden auf dem Platz attackierte. Und als ihm dann ein Wechsel zu einem größeren Klub verwehrt wurde, schwänzte der Offensivakteur schnell mal beleidigt das Training — obwohl er erst kurz zuvor sein Debüt in der französischen Équipe Tricolore gefeiert hatte. Oder gerade deshalb?
Payet, den unumstrittenen Star — den gibt es definitiv erst seit der Saison 2015/16 so richtig. Seitdem ihn Slaven Bilic eben zu West Ham United lotste. „Wenn er fit ist, ist Dimitri einer der besten Spieler der Welt auf seiner Position“, so der Kroate im Brustton der Überzeugung. Dass Arsène Wenger, der Cheftrainer des FC Arsenal, dies vor exakt einem Jahr komplett anders sah („Er ist zu unbeständig“) und folglich auf eine Verpflichtung des trickreichen Offensivakteurs Abstand nahm — Glück für West Ham United.
Beziehungsweise auch Glück für Payet — denn Bilic ließ ihn bei den Hammers exakt das tun, was er auf dem Fußballfeld immer schon tun wollte: spielen, einfach nur spielen. Beziehungsweise tricksen und Sachen ausprobieren — auch wenn sie mal schiefgehen sollten. Bloß sie gingen kaum noch schief. Stattdessen erzielte der 29-Jährige neun Tore in seiner Premierensaison in der Premier League, verbuchte in 30 Partien zudem zwölf Vorlagen.
„Ich kann mich nur immer wieder bei Bilic bedanken. Er gab mir von Beginn an Selbstvertrauen, hat mich immer bestärkt“, wird Payet nicht müde zu betonen. Bloß dass er jetzt auch im Nationaldress so durchstartete? Selbst die Verantwortlichen dort sind davon ein bisschen überrascht, wie Co-Trainer Guy Stéphan gerne zugibt: „Bei Dimitri folgten früher auf gute Spiele immer wieder sehr schnell schlechte. Aber mittlerweile hat er sich stabilisiert — und das Ganze sogar auf einem Niveau, das uns extrem viel Hoffnung macht.“
Nicht zuletzt auch für das Halbfinalspiel am morgigen Donnerstag in Marseille gegen Deutschland. Payets Arbeitsnachweis bei der bisherigen EM-Endrunde, neben seinen fünf Torbeteiligungen: 331 Ballkontakte in 397 Einsatzminuten, wobei er ganz nebenbei 41,86 Kilometer zurücklegte. Also von wegen unaustrainiert oder gar faul. Die DFB-Auswahl muss zweifellos höllisch aufpassen auf ihn.