Englands Angst vor „zweitem Brexit“ - Island selbstbewusst
Nizza (dpa) - Englands selbsternannte Titeljäger fürchten den peinlichen Euro-Brexit, Island will den größten Triumph seiner Fußball-Geschichte.
Psychospielchen des EM-Debütanten, die eigene Chancen-Verschwendung und das Elfmeter-Trauma lassen die Nervosität beim Favoriten vor dem ungleichen K.o.-Duell mächtig steigen.
„Es ist ganz einfach - wenn wir nicht gewinnen, fahren wir nach Hause. Also fangen wir besser langsam mal an, Tore zu schießen“, warnt Englands Coach Roy Hodgson sein bislang ineffizientes Team vor dem Achtelfinale am Montag (21.00 Uhr) in Nizza. „Du bekommst keine Preise für Ballbesitz, die meisten Ecken, das schönste Spiel. Du bekommst nur Preise, wenn du gewinnst.“
Dass im möglichen Viertelfinale Frankreich wartet, soll sein Team dabei nicht ablenken. „Es macht keinen Sinn, dass ich darüber spreche, weil wir es erstmal schaffen müssen“, betonte Kapitän Wayne Rooney - auch wenn Hodgson bereits von einer „Ehre“ sprach, möglicherweise gegen den Gastgeber antreten zu dürfen.
Einen Sieg durften die Fans der Three Lions in Alles-oder-Nichts- Spielen nämlich lange nicht erleben durften. Zehn Jahre warten Wayne Rooney & Co. bei großen Turnieren auf einen Sieg in der K.o.-Runde, seit dem WM-Triumph 1966 setzte sich England nur sechsmal in einem Duell ums Weiterkommen durch.
„Das ist erbärmlich“, klagt die „Times“ und entwarf das nächste Schreckensszenario: „Bricht der zweite Brexit heran? Islands Posterjungs könnten uns in die Kälte stoßen.“ Dies hätte vier Tage nach dem Votum Großbritanniens für den EU-Austritt auch für den Coach Konsequenzen: „Eine Niederlage gegen Island, ein Land mit mehr Vulkanen als Vollzeit-Fußballprofis, würde die Ära von Hodgson hier und jetzt beenden“, schreibt die Zeitung - wie alle englischen Blätter stets mit dem Verweis, dass Island nur 330 000 Einwohner hat.
Ohne jeden Druck und unterstützt von einer ganzen, fußballverrückten Nation bohrt das Überraschungsteam dieser Euro mit Freude in alten englischen Wunden herum. In seiner Zeit als schwedischer Nationaltrainer habe er sechs Mal gegen die Three Lions gespielt, erinnert Islands Coach Lars Lagerbäck - „und nie verloren“.
Trotz der langjährigen Freundschaft mit seinem Gegenüber Hodgson, der Lagerbäck „ultimativen Respekt“ zollte, stichelte der Schwede weiter. Bislang habe England gut gespielt, sagte Lagerbäck angesichts der schlechten Trefferquote im bisherigen Turnier. „Aber im Fußball geht es darum, Tore zu schießen und ich hoffe sie machen so weiter bisher“.
Auch sein gleichberechtigter Mit-Trainer Heimir Hallgrimsson kann sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. „Ihr seid besessen von Elfmetern“, sagt er. „Wir versenken immer unsere Elfmeter. Also passt auf.“
Das können die Engländer nicht behaupten. In sieben Anläufen gab es sechsmal das Aus im so gefürchteten Elfmeterschießen, zuletzt gegen Italien im EM-Viertelfinale 2012. Nicht einmal zwei Drittel aller Versuche waren bislang erfolgreich. „Ganz ehrlich, wir reden da nicht drüber“, kommentiert Rooney das Thema knapp und nimmt seine Mitspieler in die Pflicht. „Natürlich gehen wir als klare Favoriten ins Spiel.“
Der Kapitän soll im Vergleich zur missglückten Personalrochade von Hodgson beim 0:0 gegen Slowakei im letzten Vorrundenspiel wie voraussichtlich auch Stürmer Harry Kane in die Startelf zurückkehren.
Durch den verpassten Gruppensieg hatte sich England den deutlich härteren Weg durch die K.o.-Runde eingebrockt. Nach einem möglichen Viertelfinal-Duell mit Gastgeber Frankreich würden Weltmeister Deutschland, Titelverteidiger Spanien oder Italien drohen.
Doch trotz der mäßigen EM mit nur drei Treffern in drei Spielen sieht Rooney sein Team auf Augenhöhe mit den Favoriten. Im Gegensatz zu seinem zaudernden Coach geht der Anführer verbal in die Offensive. „Vor vier Jahren hätte man besorgt sein müssen, wenn es gegen Frankreich, Spanien oder Deutschland geht, aber die Lücke hat sich geschlossen“, sagt der 30-Jährige und wiederholt sein forsches Ziel: „Wir sind hier, um das Ding zu gewinnen.“
Soweit gehen die Gedankenspiele beim nächsten Gegner noch lange nicht. „Wenn wir England schlagen, würde sich unser aller Leben ändern“, sagt Coach Hallgrimsson und schwärmt, dass ein Sieg „der größte Moment in der isländischen Fußball-Geschichte“ wäre. Und einer der schmachvollsten der englischen Historie.