„Fast barrierefreie“ - Public Viewing der anderen Art

München (dpa) - 1:0 für Deutschland - Sebastian Schäfer springt auf, klatscht und bejubelt den Führungstreffer gegen die Ukraine. Dabei hat der 31-Jährige das Tor nicht gesehen, denn er ist seit seiner Kindheit blind.

Foto: dpa

Trotzdem kann er sich mit hunderten anderen Fans gemeinsam freuen.

Denn das Public Viewing am Sonntag im Münchner Olympiapark ist „fast barrierefrei“, erläutert May-Lin Torwegge von der Aktion Mensch. Und für die Blindenreporter und Übersetzer für Gebärdensprache ist der Abend eine Herausforderung. „Fußball mache ich zum ersten Mal - wie kriegt man da die Stimmung rüber?“, fragt sich Anne Göppert, die den Lärm des Stadions und den Live-Kommentar mit Mimik und Gestik in der Gebärdensprache sichtbar macht. „Das ist schon ganz anders, als beim Arztbesuch zu übersetzen“, sagt die 34 Jahre alte Dolmetscherin. „Ich habe gestern vor dem Fernseher noch einmal trainiert.“

„Ich wusste gar nicht, dass es heute Dolmetscher gibt“, sagt Igor Weber, der regelmäßig zum Public Viewing und ins Stadion geht. Der 22 Jahre alte Gehörlose im Deutschland-Trikot beobachtet abwechselnd die große Leinwand und die Hand- und Mundbewegungen der Übersetzerin. In Düsseldorf, Hamburg und München können Seh-Behinderte und Gehörlose so bei jedem Spiel der deutschen Mannschaft mitfiebern, solange diese im Turnier ist. In München gibt es zwei Blindenreporter, die das Spiel live schildern, zwei Dolmetscherinnen für Gebärdensprache und extra Sicht-Plätze sowie eine spezielle Toilette für Menschen im Rollstuhl.

„So kannst du halt in Echtzeit jubeln“, sagt Manuel Beck, 29 Jahre, der mit Schäfer gemeinsam in der Würzburger Blinden-Fußballmannschaft kickt. Die beiden Seh-Behinderten sitzen mit Kopfhörern und einem drahtlosen Empfänger in der Tasche inmitten von hunderten Fans auf der Wiese im Münchner Olympiapark.

Im Ohr haben sie die Live-Schilderung des Spiels von Mario Harter. „Wir reden sehr, sehr viel“, erklärt der 28 Jahre alte Sportjournalist, der an diesem Abend ehrenamtlich als Blindenreporter im Einsatz ist. „Das muss sein wie die Übertragung im Radio, da musst Du alles, was Du siehst, erzählen.“ Die Blindenreporter gibt es in deutschen Stadien seit 2006, nur bei Public Viewings sind sie bisher kaum anzutreffen. 20 000 Euro kostet die Ausrüstung, die aus Richtfunk-Mikrofonen, Sendern und Empfängern besteht; an diesem Abend ist sie extra ausgeliehen.

„Ohne die Reporter müssten wir immer wen nerven. Und wir wissen nicht, ob das Spiel gut oder schlecht ist, weil wir ja nur die Stimmung im Stadion hören“, erklärt Schäfer. Selbst steht der Jurist regelmäßig in der Bundesliga für Blindenfußball auf dem Platz: Fünf gegen Fünf auf einem Kleinfeld mit Bande, der Torwart spielt ohne Handicap. Jeweils ein Guide steht hinter dem Tor und gibt den Spielern mit lauten Rufen die Richtung vor. In den Ball sind kleine Rasseln eingebaut. Neun Mannschaften spielen derzeit im Turnier-Modus um den Meistertitel.

Den Sieg am Sonntagabend fährt die deutsche Mannschaft ein - aber nach Ansicht von May-Lin Torwegge haben alle gewonnen, die diesmal „inklusiv“ statt „exklusiv“ dabei waren, wie sie sagt.