EM 2016 Toni Kroos - Genial wie Günter Netzer

Spielmacher — Toni Kroos startete schon in die Weltmeisterschaft überragend. Bei der Euro 2016 ist das nicht anders.

Toni Kroos hat sich zum Spielmacher gemausert.

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Lille. Auf der Woge des Erfolges zu schwimmen, wäre fast schon eine unzureichende Beschreibung. Toni Kroos hat sich zu einem Weltstar entwickelt. Aus dem beschaulichen Greifswald ist der 26 Jahre alte Profi in die Welt gezogen, um sie zu erobern. „Alle, die von Real Madrid zur Europameisterschaft gefahren sind, sind hochmotiviert nach Frankreich gekommen“, sagt Kroos nach dem 2:0 (1:0) zum Auftakt gegen die Ukraine in Lille. Mit Real hatte er vorher die Champions League gewonnen.

Schon bei der Weltmeisterschaft feierten die Kritiker nach dem überragenden 4:0 gegen Portugal den Mittelfeldspieler als den überragenden Mann in den Reihen des zukünftigen Weltmeisters. Kroos machte das Spiels eines Lebens beim 7:1 gegen Brasilien in Belo Horizonte. Das 2:0 gegen die Ukraine ist mit diesen weltmeisterlichen Auftritten kaum zu vergleichen, aber die Kritiker haben auch in Lille den Mittelfeldstrategen wieder als einen der Besten ausgemacht. Es gibt kaum Momente im Spiel, wo man erkennt, dass er möglicherweise doch einmal falsch gestanden hätte, es gibt keinen Pass, dem man unterstellen muss, nicht geplant und intuitiv vorausgedacht zu sein. Sein wichtigster Trainer hat Toni Kroos schon sehr frühzeitig für „genial“ gehalten. Kein Geringer als Jupp Heynckes formte diesen Spieler.

Als Heynckes Trainer bei Bayer Leverkusen war, spielte Kroos erstmals überragend, wenn auch nicht durchgehend und immer. Nach der Weltmeisterschaft wechselte der Weltmeister zu Real. Das hatte sich in Brasilien abgezeichnet. Heynckes sagt: „Toni hat eine Übersicht und eine intuitive Begabung, sich zu verschieben und in die richtigen Räume zu gehen. Er spielt aus dem defensiven Mittelfeld genial, es gibt auf dieser Position keines Besseren auf der ganzen Welt.“ Heynckes war es, der das sofort erkannte. Kroos definiert sich als defensiv. Ist aber offensiv ebenso wertvoll, ein Spielgestalter. Mittlerweile vielleicht eher noch als Mesut Özil.

„Wir sind oft ganz gut in die Zwischenräume gekommen, wie ich das gefordert habe“, sagte Kroos nach dem 2:0 (1:0) in Lille. „Die letzte Viertelstunde der ersten Halbzeit war schwach, aber im zweiten Durchgang haben wir nichts mehr weg gegeben. Wir sind noch nicht da, wo wir sein müssen, wenn wir den Titel gewinnen wollen, aber wir sind auf dem Weg dorthin“, sagt Kroos. Kann man es besser beschreiben? Dass Shkodran Mustafi sein erstes Tor erzielt hat, „Kompliment“, sagt Kroos. Mustafi konnte es nur machen, weil der Freistoß von Kroos zuvor einfach das war, was er ist: Weltklasse.

Nie macht dieser junge Mann viele Worte. Warum auch? Hat er ja früher auch nicht gemacht. Kroos weiß, was er kann. Vor allem weiß er auch, was er will. Manager Oliver Bierhoff sah ihn lange nicht als Führungsspieler. Und in der Zentrale immer nur Bastian Schweinsteiger. „Ob mit oder ohne Bastian“, sagt Kroos, „ich werde immer irgendwie in der Mitte zu finden sein“. Seine spielöffnenden Pässe sind, wie andere sie nicht spielen können. Kroos ist einer, der dem Spiel mit einem einzigen Pass eine vollkommen neue Richtung geben kann. Die Süddeutsche Zeitung hat ihn einmal als „Deutschlands edelsten Hilfsarbeiter“ bezeichnet. Kroos nimmt das zur Kenntnis. Joachim Löw attestiert ihm eine „unglaubliche Souveränität und Präsenz“. Und dass er nochmals einen Schritt nach vorne gemacht habe.

Kroos selbst spürt vor allem „Verantwortung“: „Ich fühle mich dann gut, wenn das Team funktioniert“. Der Europameistertitel ist tatsächlich der einzige, der diesem 26 Jahre jungen Profi noch fehlt. Heynckes überrascht das alles nicht: „Toni geht den Weg, den ich immer bei ihm gesehen habe.“ Es gibt ganz wenige, die diese Worte für sich beanspruchen können. Bevor Kroos von Heynckes als „genial“ bezeichnet wurde, hat dieser Heynckes im Fußball nur ein „Genie“ gekannt, sagt er. Und das war Günter Netzer.