Gastgeber-Schreck Deutschland - Rätsel um Kapitän

Marseille (dpa) - Der Weltmeister spielt erneut gegen ein ganzes Land - und der Kapitän könnte doch wieder eine Hauptrolle übernehmen.

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Am Tag vor dem hochemotionalen EM-Halbfinale gegen den euphorisierten Gastgeber Frankreich meldet sich der im Viertelfinal-Krimi gegen Italien angeschlagene Kämpfer Bastian Schweinsteiger zurück: Beim Abschlusstraining lief der 31 Jahre alte Anführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft voran - und war bester Laune.

Das Rätsel aber bleibt, denn nach 15 Minuten unter Beobachtung der Medien ließ der Bundestrainer im Geheimen weitertrainieren: Wird Joachim Löw seinen Kapitän Schweinsteiger am Donnerstag (21.00 Uhr) erstmals bei dieser EM in der Startformation aufbieten? Der Mittelfeldstratege trat in Évian-les Bains wieder gegen den Ball, das rechte Knie aber war dick bandagiert.

Gerade gegen die körperlich robusten Franzosen und bei erwarteten Temperaturen von 30 Grad wird hundertprozentige Fitness gebraucht. Das hatte Löw deutlich gemacht. Andererseits weiß der Chefcoach um die exponierte Stellung des 119-maligen Nationalspielers Schweinsteiger: „Er kann unserer Mannschaft unheimlich viel geben.“

Doch ob mit oder ohne den Kapitän: Die stolze Equipe Tricolore mit 66 Millionen begeisterten Franzosen im Rücken ist im achten EM-Halbfinale eines DFB-Teams eine hohe Hürde. Sogar im idyllisch-ruhigen Kurort Évian stimmten sich die Fans der „Blauen“ schon mit einem lauten Autokorso auf das EM-Halbfinale ein, bevor der DFB-Tross am Mittwoch in Richtung Marseille aufbrach. „Die Franzosen haben mehr und mehr Selbstvertrauen bekommen“, betonte Teammanager Oliver Bierhoff.

Gerade dadurch fühlt sich der Gastgeber-Schreck in Schwarz-Rot-Gold besonders herausgefordert. „Wir haben Respekt. Angst gehört aber nicht zu den Dingen, die bei uns in der Mannschaft vorherrschend sind“, sagte ein entspannter Thomas Müller, der nach dem WM-Triumph vor zwei Jahren mit aller Macht das besondere Titel-Double anstrebt. 20 Jahre nach dem EM-Triumph im Londoner Wembley-Stadion will die aktuelle Weltmeister-Generation ihre eigene erfolgreiche Europameisterschafts-Geschichte schreiben.

Dass Löw sein Team im Stade Vélodrome von Marseille nach dem Ausfall der verletzten Mario Gomez und Sami Khedira sowie des gesperrten Mats Hummels gleich auf mehreren Positionen umstellen muss, will der Bundestrainer nicht in den Vordergrund stellen. Klagen ist Löw fremd.

„Wir haben Vertrauen zu denen, die kommen“, betonte der 56-Jährige. So könnten Shkodran Mustafi in die Abwehr-Dreierkette und „Zauberfüßler“ Julian Draxler in den Offensivverbund rücken. Falls Schweinsteiger den Wettlauf mit der Genesungszeit doch nicht schafft, wäre wohl Turnierdebütant Julian Weigl erste Alternative an der Seite von Toni Kroos im zentralen Mittelfeld.

Die sportliche Leitung sieht darin kein Problem. Denn schon der bisherige Turnierverlauf habe gezeigt, „dass junge Leute wie Kimmich, Draxler und Hector Verantwortung übernehmen und die Qualität haben, um in großen Momenten zu bestehen“, unterstrich Bierhoff. „Natürlich hat Frankreich nicht mit Glück das Halbfinale erreicht, sondern weil sie klasse besetzt sind. Aber ich bin optimistisch, dass wir Lösungen finden“, betonte Müller, der endlich sein erstes EM-Tor will.

Die Ausfälle haben im deutschen Team sogar zu einer „Jetzt-erst-recht-Stimmung“ geführt. „Es ist natürlich bitter für die Mannschaft und die Spieler, die es betrifft. Das muss man als Mannschaft auffangen. So gut aufgestellt in der Breite waren wir noch nie, was die Qualität unserer Einzelspieler betrifft“, sagte Antreiber Müller. Auch die Franzosen gehen mit großem Respekt in die Partie und kämpfen gegen ein Deutschland-Trauma. Bei den WM-Turnieren 1982, 1986 und 2014 waren sie jeweils in der K.o.-Runde an der DFB-Elf gescheitert.

Zudem haben sich die besten deutschen Kicker bei großen Turnieren seit der EM 1972 in Belgien in Auseinandersetzungen mit den Gastgebern immer durchgesetzt - zuletzt bei der WM 2014 mit 7:1 gegen Brasilien. Auch da hatte ein ganzes Land hinter der Seleção gestanden - und die war an dem Druck förmlich zerbrochen. „Ich habe es in Belo Horizonte miterlebt“, sagte DFB-Präsident Reinhard Grindel vor dem Spiel gegen ganz Frankreich: „Schön wäre ein schnelles Tor von uns, da wird es gleich ein anderes Spiel. Aber unsere Spieler sind als erfahrene Profis auch mit solchen Situationen vertraut.“

Löw will „nicht zurückschauen“. Auch das 1:0 gegen Frankreich vor zwei Jahren im WM-Viertelfinale „sagt heute nichts mehr aus, weil die Franzosen jetzt auch etwas anders spielen.“ Vor allem gegen die französische Offensive mit Olivier Giroud, Antoine Griezmann und Dimitri Payet, die im bisherigen Turnier zusammen schon zehn Tore erzielten, muss die deutsche Defensivabteilung auf der Hut sein.

„Griezmann ist ein sehr entscheidender Spieler. Giroud kann den Körper gut einsetzen. Die Franzosen haben eine hohe individuelle Qualität. Trainer Didier Deschamps hat einen tollen Job gemacht. Das Team ist unter ihm zusammengewachsen“, sagte Bierhoff. Der Golden-Goal-Schütze zum dritten und bisher letzten deutschen EM-Titel 1996 in England hofft, dass ihn nun ein Spieler der aktuellen Generation als EM-Held ablöst. Dazu aber muss Deutschland erst einmal ins Finale.