Gegenwind für Löw: Schwierige Aufarbeitung
Berlin (dpa) - Der Bundestrainer sehnt sich nach Ruhe. Doch vorher muss er sich kritischen Fragen stellen. Wann er die EM und den überflüssigen Halbfinal-K.o. aufarbeiten wird, weiß Löw noch nicht.
Öffentlich läuft die Ursachenforschung dafür auf Hochtouren.
Ob sich Joachim Löw an diesem Sonntag noch einmal selbst quält und das EM-Endspiel vorm Fernseher oder irgendwo in einem Biergarten anschaut, hat der DFB nicht kommuniziert. Auf jeden Fall wird beim Bundestrainer, seinen inzwischen urlaubenden Spielern und der ganzen Fußball-Nation der Frust nochmals richtig hochkommen, wenn Deutschland-Bezwinger Italien beim großen Finale in Kiew den Titelverteidiger Spanien herausfordern darf.
„Man braucht einige Tage Abstand, um die Dinge einzuordnen“, hatte ein sichtbar gezeichneter Löw bei seinem Abschied von der Mannschaft erklärt: „Zur Ruhe kommen ist ganz gut.“ Am 15. August geht es mit dem Testspiel gegen Argentinien weiter. Am Samstag beschränkte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) auf seiner Internetseite darauf, einen Endspiel-Tipp von Ex-Europameister Uli Stielike zu verbreiten, der sich 1998 auch für einen Tag als Bundestrainer gefühlt hatte.
Der aktuelle Chefcoach spürte schon in den ersten Stunden nach der bitteren und zum Teil hausgemachten 1:2-Pleite im Halbfinale gegen Angstgegner Italien, wie schnell die Stimmung umgeschlagen war. Nach drei Vorrunden-Siegen in der Ukraine und dem Viertelfinal-Erfolg in Polen noch als Magier und Trainer-Liebling verehrt, konzentrierten sich fast alle Reaktionen nach dem Absturz auf den Bundestrainer und dessen misslungene Personal- und Taktikrochade gegen die Azzurri.
Löw hat sich danach öffentlich nochmals gestellt und inzwischen das Aus mit auf seine Kappe genommen. „Das kommt in der Aufarbeitung, dass man sich Gedanken macht, was anders hätte laufen können“, bemerkte der 52-Jährige vor seinem Urlaub.
Die detaillierte Aufarbeitung wird schwierig. Eigentlich schien bei diesem Turnier alles angerichtet für den ersten Titelgewinn seit 16 Jahren. Löw hatte einen starken, ausgeglichenen, jungen und hungrigen Kader wie nie zuvor in seiner Zeit als Bundestrainer. Das betonte er selbst. 15 Pflichtspiele hatte Deutschland gewonnen - bis gegen Italien die schöne Serie zu früh riss. Es gab keine Skandale, nicht mal ein Skandälchen. Die Spieler konnten sich abgeschottet von allen Widrigkeiten auf den Tag X vorbereiten.
Löw selbst wurde zum Mann mit dem goldenen Händchen, alle seine Personalentscheidungen saßen - bis zur Partie gegen Italien. Was ist also schiefgelaufen? Die Debatte darum trägt im schwarz-rot-goldenen Fußball-Land inzwischen fast staatstragende Züge, was natürlich auch mit an der herausragenden Position von Löw liegt.
Ex-Nationalspieler von Toni Schumacher bis Michael Ballack meinen, die Lücken in Löws System schon entdeckt zu haben. Andere wie Bundestrainer-Vorgänger Jürgen Klinsmann verteidigen Löws Kurs: „Es ist doch klar, dass nicht jede Maßnahme eines Trainers automatisch zum Erfolg führt. Der Trainer trifft vor dem Spiel Entscheidungen, die nicht willkürlich sind.“ Ein Spieler wie Routinier Miroslav Klose war gar völlig ratlos: „Ich habe keine Erklärung.“
Der mit einem Vertrag bis zur WM 2014 ausgestattete Löw wirkte völlig überrascht, dass sogar nach seiner Zukunft als Bundestrainer gefragt wurde, obwohl doch nur ein Spiel verloren war, aber zuvor vier bei dieser EM gewonnen wurden. „Im verlorenen WM-Halbfinale 2010 gegen Spanien war es ein Eckball mit Kopfballtor. Jetzt hat bei den zwei Toren eine Kleinigkeit gefehlt“, meinte der DFB-Chefcoach spürbar irritiert von der heftigen öffentlichen Diskussion. „Dieser Schaden wird auch vergehen. Da wird jetzt nicht alles auf den Kopf gestellt“, hatte Löw schon kurz nach dem Ausscheiden gemeint.
Allerdings wird nun alles hinterfragt, dem muss sich auch Löw stellen. Noch immer ist Fußball trotz aller modernen Fitnessprogramme, der wissenschaftlichen Begleitung und der eigenen Welt, in der die Nationalmannschaft mittlerweile lebt, ein Ergebnissport geblieben. Löw hat in seinen sechs Jahren als Chef der deutschen Fußball-Verbesserung unbestritten sehr viel erreicht.
„Die Mannschaft hat sich nach vorne gearbeitet“, betonte Löw zurecht. Er hat sich und seine Fußball-Philosophie im Streben nach Perfektionismus und dem Außergewöhnlichem vielleicht auch ein Stück zu sehr überhöht. Stammkräfte, Anführer, Hierarchie, Erfahrung und Cleverness gehören auch im modernen Fußball zu den Anforderungen, wenn der große Wurf gelingen soll. „Ich bin mir nicht sicher, wann die Aufarbeitung stattfindet. Ein bisschen wird es schon brauchen“, sagte Löw.