Löw gefordert: Nationalteam fehlt Balance

Évian-les-Bains (dpa) - Es wird heiß diskutiert in der Abgeschiedenheit des Kurortes Évian-les-Bains. Der Weltmeister ist auf seiner Frankreich-Reise, die am 10. Juli in Paris mit dem vierten EM-Titel glorreich beendet werden soll, ein Stück weit aus dem Gleichgewicht geraten.

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Hauptdarsteller wie Jérôme Boateng wählten nach dem torlosen Remis gegen Polen deutliche Worte. Besonders die Defizite in der weltmeisterlichen Offensive sorgen für ungewohnte Ratlosigkeit in der Fußball-Nationalelf. „Das müssen wir ändern, sonst kommen wir nicht weit“, sagte Abwehrchef Boateng zum aktuellen Torlos-Status der EM-Offensive in den Katakomben des Stade de France. Die Mahnung darf durchaus als Weckruf verstanden werden.

Das 0:0 gegen robuste und defensivstarke Polen im zweiten Gruppenspiel konnte die Frage noch nicht beantworten, ob die Auswahl von Bundestrainer Joachim Löw 2016 tatsächlich wieder titeltauglich ist. „Das knabbert natürlich schon an uns Offensivspielern. Mich persönlich stört gar nicht, dass ich noch kein Tor geschossen habe bei einer EURO, sondern dass ich die letzten zwei Spiele eigentlich keine wirkliche Tormöglichkeit hatte“, erklärte Thomas Müller, der Torjäger im Wartestand. Erstmals seit 2004 ist den deutschen Angreifern in den ersten zwei Turnierspielen kein Tor gelungen. Bei den Endrunden danach war stets zu Beginn Verlass auf die Offensive: Von 2006 bis 2014 gingen 18 von 23 Treffern auf ihr Konto.

Löw muss bis zum letzten Gruppenmatch am Dienstag gegen die Nordiren Lösungen finden, um die Balance zwischen Abwehr und Angriff wieder herzustellen. Die plötzliche Aufgeregtheit in der Heimat - über 27 Millionen sahen die Nullnummer an den TV-Geräten - schwappte aber auch in die Idylle des DFB-Basisquartiers am Genfer See.

Für Zweifel oder Panik sieht der Bundestrainer keinen Grund. Am Freitagnachmittag lief das Training wie immer am Tag nach Spielen ab: Die Stammkräfte absolvierten ein Regenerationsprogramm. Dabei war auch der leicht am Knöchel lädierte Sami Khedira, während Boateng fehlte. Über die Gründe teilte der DFB nichts mit. Die Reservisten trainierten unter höherer Belastung auf dem Rasen. Löw will „einige Dinge“ üben lassen, die bislang nicht funktioniert haben. „Wir haben schon die Chance, das eine oder andere anzugehen“, sagte er.

Auch Oliver Bierhoff war um Gelassenheit bemüht. „Wir wussten, dass es ein Turnier mit Schwankungen ist“, sagte der Teammanager am Rande des Trainings im ZDF. Mit vier Punkten führt das Team weiter die Gruppe C an. Die Defensive hat sich im Vergleich zum 2:0-Auftakt gegen die inzwischen bereits ausgeschiedene Ukraine auch durch die Rückkehr von Mats Hummels stabilisiert. „Mats hat sein erstes Spiel gemacht nach der Verletzung. Das war schon hervorragend“, sagte Löw.

Kapitän Bastian Schweinsteiger war gegen Polen keine Option als Einwechselspieler, da der Trainer offensiv reagieren musste. Hummels erinnerte an das zweite WM-Spiel vor zwei Jahren in Brasilien: „Da haben wir gegen Ghana mit Ach und Krach einen Punkt geholt. Man darf jetzt nicht in der Nachbetrachtung, nur weil wir Weltmeister geworden sind, so tun, als hätten wir 2014 alle an die Wand gespielt.“

Mittelstürmer Mario Gomez, der als Einwechselkraft in der zweiten Hälfte gegen Polen die Offensivblockade auch nicht lösen konnte, forderte Vertrauen in Löw. „Er wird schon das Richtige tun“, sagte der 30-Jährige. Die DFB-Auswahl gewann unter Löw zwar nur eine von jetzt fünf zweiten Turnierpartien. Doch im dritten und entscheidenden Gruppenspiel wurde der Schalter stets umgelegt und immer gewonnen.

Auch deshalb verkündete der Bundestrainer unaufgeregt: „Für uns wird es jetzt keine Veränderungen bringen. Nordirland hat auch gewonnen. Wir führen die Gruppe an. Unser Anspruch ist es, weiterzukommen und die Gruppe zu gewinnen.“ Löw weiß jedoch genau, dass er die kleinen Alarmhinweise aufgreifen muss. „Wir haben jetzt einen Tag mehr Pause, können das eine oder andere trainieren. Ab der K.o.-Phase darf man keine schlechte Phase mehr erwischen, braucht Topniveau, darf sich keinen Fehler mehr erlauben“, sagte der Bundestrainer.

Er wird seine taktische und personelle Strategie überdenken. Gegen massiv verteidigende und konternde Gegner griff sie nur teilweise. Die Besetzung der rechten Außenverteidigerposition mit Benedikt Höwedes trägt mit zum Balanceverlust bei. Das räumte Löw selbst ein: „Es geht viel über links, es fehlt der Ausgleich, weil Höwedes ein defensiver Spieler ist.“ In Brasilien öffnete erst die zwangsweise Zurückversetzung von Philipp Lahm nach rechts den Weg ins Endspiel.

Ein weiteres Problem: Das Kreativ-Dreieck Mesut Özil, Mario Götze und Thomas Müller kann sich gegen die robusten Kontrahenten nicht wie gewünscht durchsetzen. Man müsse jetzt darauf hinarbeiten, „dass unsere Laufwege, unsere Kombinationen wieder zu Torchancen führen“, betonte ein unzufriedener Müller. „Viel mehr in Laufwege investieren, aggressiver sein, mehr Zweikämpfe gewinnen“, forderte Boateng.

Viel Zeit bleibt nicht. Löw schiebt Bedenken dennoch resolut zur Seite: „Natürlich sind wir noch nicht definitiv qualifiziert. Aber gegen Nordirland werden wir schaffen, was wir wollen.“