EM-Tagebuch Marcel Reif über Löw und die Sicherheitsnadel
Ich gebe es zu: Ich habe mich geirrt, zumindest zum Teil, und korrigiere mich. Die großen Fußballer Europas sind müde — aber weniger im Körper als im Kopf. Sie können noch laufen und grätschen, aber sie haben keine Freude mehr, keine Lust.
Der Körper ist willig, aber der Geist ist müde.
Den Belgiern hat nicht mal eine Führung gegen Wales geholfen. Haben Sie deren Gesichter gesehen? Leer. Müde. Traurig. Eine Mannschaft mit so wunderbaren Fußballern war nicht mehr in der Lage, gegen einen — bei allem Respekt vor Leidenschaft und Willenskraft — eindeutig schwächeren Gegner zu gewinnen.
Und so war es bei den Engländern gegen Island, und so war es bei den Spaniern gegen Italien. Sie haben das Lächeln verloren, die Leichtigkeit — und zwar gegen schwächere Gegner, die nichts zu verlieren hatten. Ich weiß, das ist eine der ältesten Weisheiten des Fußballs, aber auch eine der gültigsten.
Das Gefühl, nichts verlieren zu können, setzt Kräfte frei, gibt Mut und Selbstvertrauen. Haben Sie diese beinahe kindliche Freude gesehen bei den Walisern und Isländern, diese unbändige Lust am Spiel? Wenn robuste Kerle durch diese innere Freiheit über sich hinauswachsen und dann auf müde Geister treffen, sind Sensationen programmiert.
Warum siegen Außenseiter? Weil sie einfach spielen. Weil sie einfach nur fußballspielen. Weil sie mit den Füßen und dem Herz spielen. Und nicht nur mit dem Kopf. Fußball ist — dem großen Meister Pep Guardiola zum Trotz - kein Schachspiel auf Rasen, bei dem sich jeder Zug vorausberechnen lässt. Sondern ein Naturereignis, in dem es auch auf Bauchgefühl und Spontanität, Begeisterung und Spielfreude, Lust und Laune ankommt. Vielleicht haben wir das ein bisschen aus dem Auge verloren bei all der Wissenschaft um Ballbesitz und Laufwege, bei den haarkleinen Analysen und Messungen und den überbordenden Trainer- und Betreuerstäben.
Auch die Deutschen hatten was zu verlieren. Deshalb glaubte der Bundestrainer, eine Sicherheitsnadel mehr zu brauchen als zuletzt. Deshalb hat er defensiver aufgestellt, denn eine Dreierkette ist im Spiel gegen den Ball natürlich immer eine Fünfer-Reihe.
Als ich die Aufstellung sah, habe ich mich gefragt: Verzagt er jetzt wieder? Richtet er sich zu sehr nach dem Gegner und nimmt dem eigenen Team die Stärken und die Identität?
Doch nach den 120 Minuten darf man festhalten: Es hat gepasst. Löw hat italienisch gedacht und die Italiener mit deren Waffen geschlagen. Zwar hatten die Deutschen nach zwei Stunden taktisch brillanten defensiven Abnutzungskampfes nicht gewonnen, aber sie waren die bessere, die aktivere Mannschaft. Deshalb hatten sie den Hauptpreis in der Fußball-Lotterie, die man Elfmeterschießen nennt, verdient.
Trotzdem wünsche ich mir, dass mich das Gefühl der Angst, diese Taktik könnte stilbildend werden für die Nationalmannschaft, ganz schnell wieder verlässt. Als eine Sondermaßnahme gegen die nervigsten Quälgeister des Weltfußballs, die anders wohl nicht zu stoppen sind, will ich es akzeptieren. Aber nicht als neues Merkmal dieser Epoche des deutschen Fußballs, die 2004 mit Jürgen Klinsmann und Joachim Löw begann. Das wäre ein Rückschritt.
Diese Generation steht nämlich für mutigen, offensiven Stil; für spielerische Lösungen und ist ein Bekenntnis zu einem Fußball, der mehr sein will als eine Aneinanderreihung von Ergebnissen. Was wir auf der Strecke der letzten zwölf Jahre von der Nationalmannschaft gesehen haben, hat nichts mehr zu tun mit dem berechnenden Fehlervermeidungsfußball aus der Epoche zuvor.
Ich will gern zugeben, dass ich eine solche Abkehr vom Stil der letzten Jahre sehr persönlich nehmen würde. Denn ich habe bei dieser EM intensiv über mein Fußball-Leben nachgedacht und mich dabei gefragt, warum mich dieses große Spiel immer noch so fasziniert.
Dabei habe ich gemerkt, wie wenig ich mit Sätzen wie „Fußball ist ein Ergebnissport“ oder „Gewinnen — koste es, was es wolle“ anfangen kann. Und wenn der ganze Rest der Welt es anders sieht: Ich erlaube mir die Freiheit, vom Tisch aufzustehen und zu gehen, wenn solche Sätze fallen.
Denn eins steht fest: Niederlagen, die man beweinen muss, sind schlimm — aber Siege, über die man sich nicht freuen kann, sind noch viel schlimmer.