EM-Tagebuch Marcel Reif Die Fünfte
So enttäuschend dieses Achtelfinale begann, so aufregend und schön ging es zu Ende. Am Samstag habe ich mich noch geärgert über das Schlimmste, was es im Fußball gibt. Und am Montag habe ich wieder ein paar Momente erlebt, in denen ich daran erinnert wurde, warum ich dem Fußball seit 60 Jahren hinterherrenne.
Der Zweck heiligt die Mittel — dieser Satz regt mich auf, hat mich schon immer aufgeregt. Weil er die Aufforderung zu Verrat und zur Selbstverleugnung ist. Die Portugiesen haben alles über Bord geworfen, was ihre Identität ausmacht, um sich irgendwie durchzuwursteln — selbst ein Mann wie Ronaldo durfte nicht spielen, was er kann. Sie hatten das Weiterkommen nicht verdient — aber die Kroaten auch nicht. Die lagen nach dem Spiel heulend am Boden, aber warum? Weil sie es nicht wenigsten versucht haben! Und ausgerechnet, als sie es kurz vor Schluss das erste Mal riskiert haben, sind sie in einen Konter gelaufen.
Gerade, weil ich weiß, zu was die Kroaten eigentlich in der Lage sind, sage ich: Das war die gerechte Strafe. Es geht nicht darum, eine bestimmte Spielweise abzurteilen. Nichts ist den Nordiren vorzuwerfen, weil sie gespielt haben, was sie können. Wer aber seine Stil verrät und seine Identität unterdrückt, beschädigt sich selbst und den Fußball, der mehr ist als die Suche nach einem Sieger. Die Schweizer und die Ungarn haben das viel besser gemacht, sie dürfen wiederkommen. Mag sein, dass die Ungarn sich sogar ein bisschen zuviel zugetraut haben gegen die Belgier, aber das war ein sympathischer Auftritt, von dem diese einst so große Fußball-Nation zehren kann.
Bei den Belgiern muss intern irgendwas passiert sein. Die haben nach der Auftaktniederlage gegen Italien soviel Feuer bekommen, dass interne Konflikte aufgebrochen sind. Das ist typisch für Mannschaften, die als Favorit gelten, dann aber nicht ins Rollen kommen. Der Druck treibt die Konflikte an die Oberfläche, die Kritik eskaliert, man geht aufeinander los. Aber dann haben da ein paar erwachsene Männer gesagt: Leute, jetzt lasst uns mal zusammenhalten und einfach nur gut fußballspielen. Und das haben sie getan, das 4:0 war eines dieser Knackspiele: Entweder man stürzt gnadenlos ab oder man geht auf eine große Reise. Wenn die Belgier jetzt nicht ins Finale kommen, gebe ich der EM-Redaktion der WZ einen aus...
Auch den Franzosen hat man angemerkt, welcher Druck auf ihnen lastet — als EM-Gastgeber, als Repräsentanten eines gebeutelten Landes, als Fußballstars. Das war verdammt knapp gegen Irland, und jetzt wird es gegen Island nicht leichter. Das sind alles junge Männer, die nicht den Kopf ausschalten können. Die sehen zwar mit ihren Ganzkörper-Tätowierungen und ihren Irokesen-Frisuren aus wie furchterregende Krieger, aber innendrin sind sie sensibel und verletztlich. Sie wollen so sein, wie sie aussehen. Man darf dem Fußball und seinen Protagonisten nicht zuviel zumuten. Wir dürfen Mannschaften nicht in Stellvertreterkriege schicken und dieses wunderbare Spiel nicht zum Religionsersatz stilisieren. Einfach nur kicken, und zwar das, was man drauf hat — ohne philosophischen Überbau.
So, wie die Isländer das tun. Ja, ich habe gejuchzt, als sie das Spiel gewonnen hatten. Und ich habe ihnen die Daumen gedrückt, denn für einen gestandenen Fußball-Romantiker wie mich haben sich da doch alle Wünsche erfüllt. Es scheint kein Zufall zu sein, denn Island passt in eine Reihe mit Darmstadt 98, Atletico Madrid und Leicester City. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Große Fußball-Manitou da oben sich einen Spaß mit uns macht und uns allen noch mal zeigen will, wie schön der Fußball sein kann, wenn er unberechenbar ist. Schön natürlich nicht für die Engländer. Man sagt ja oft, dass der Fußball gesellschaftliche Entwicklungen spiegelt — aber das er jetzt sogar auf Volksbefragungen hört, hat ja schon einen ganz besonderen Charme.
Dabei ist der K.o. der Engländer keine Überraschung. Erstens, weil sie seit der WM 1966 immer wieder als Mitfavorit mit allen Ehren begrüßt werden, dann aber längst zu Hause sind, wenn das Silber verteilt wird. Zweitens, weil sie nach einer langen Saison müde und ausgepowert sind. Und drittens, weil sie als Nationalelf keine ausgeprägte Identität, keinen eigenen Stil haben. Island hat gewonnen, weil es britischer gespielt hat, als es die Engländer heute noch können. Diese kleinen Störenfriede toben nun weiter fröhlich und voller Euphorie durch das EM-Gelände; jetzt werden sie auf einer internationalen Welle der Sympathie getragen. Wenn ich Franzose wäre, würde ich im Viertelfinale gegen jeden Gegner lieber antreten als gegen diese Isländer...
Ich als etwas älterer Mensch freue mich natürlich besonders, wenn bei einer EM die älteren Fußballer nicht abseits stehen — wir hatten das Thema ja schon. Wir brauchen halt schon mal unseren Mittagsschlaf, um dann wieder frisch zu sein. Deshalb hat Antonio Conte, diese italienische Antwort auf Diego Simeone, seinen Assen eben eine kleine Pause gegönnt, als es im letzten Gruppenspiel um nichts mehr ging. Richtige Entscheidung! Mit welcher Power die Italiener die Spanier in der ersten Halbzeit hergenommen haben, war beeindruckend. Und dann haben sie in der zweiten Halbzeit gezeigt, was italienische Fußballer schon im Mutterleib lernen: Verteidigen. Aber das ist nicht das Entscheidende an diese tollen Squadra azzurra. Wenn man sieht, mit welcher jungenhaften Begeisterung, welcher Leidenschaft und welchem Spaß am Fußball dieser Gianluigi Buffon dabei ist, kann einem nur das Herz aufgehen. Wunderschön. Als Gegner aber so unangenehm wie ein Besuch beim Zahnarzt, eine Sommergrippe und das Ausfüllen der Steuererklärung. Ich hätte mir für die deutsche Mannschaft jeden anderen Gegner lieber gewünscht, aber jetzt müssen die Jungs zum Zahnarzt.
Unschlagbar sind die Italiener nicht, das ist viel fußballerisches Mittelmaß dabei. Aber sie haben einen Trainer, der aus diesem Team viel mehr herausholt als in den einzelnen drinsteckt. Wenn man in da in seinem schwarzen Nachtklubbesitzer-Anzug herumtoben sieht, weiß man: Der ist dreimal chemisch gereinigt, kennt alle Tricks und weiß, wie man Fußballprofis packen kann. Aber Deutschland hat ja Jogi Löw, der schon mal am Genfer See testen kann, ob ihn das Wasser schon trägt. Weit ist es dahin nicht, denn in seiner coolen Gelassenheit sitzt jede Maßnahme, zuletzt die, den einen Spieler (Götze) durch einen anderen (Draxler) zu ersetzen, der bis dahin genau dieselben Schwächen gezeigt hat, dann aber zum Man of the Match wird. Ich glaube, wenn der Bundestrainer morgen beim Training zu seinen Spielern sagt: Jungs, im Himmel ist Jahrmarkt, dann gehen die sofort los und holen die Leiter. So wird die Mannschaft von Spiel zu Spiel stärker, belebt den sich selbst erfüllenden Mythos von der Turniermannschaft und repariert ihre Schwachstellen bei laufendem Motor. Wenn dann noch der Mann, der wegen einer Wadenverletzung auszufallen drohte, dann nach sieben Minuten das erste Tor schießt, dann höre ich halb Europa stöhnen: Puh, diese Deutschen...