EM-Tagebuch Marcel Reif will die Wild-Card für Schottland

Meine Rangfolge steht fest: Nordirland vor Irland und Wales, knapp dahinter England — das sind meine Gewinner. Jedenfalls, wenn es um die Fangesänge geht. Aber wir sind ja nicht beim Eurovision Song Contest — obwohl ich manchmal das Gefühl hatte.

Fußballkommentator Marcel Reif schreibt für die WZ über die EM.

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Nein, wir sind bei der Fußball-Europameisterschaft, und das ist eigentlich ein Wettbewerb, der alle vier Jahre die Topteams des Kontinents zusammenbringt, um diesen Sport auf seinem höchsten Niveau zu präsentieren und einen würdigen Champion zu finden.

Bisher war davon nichts zu sehen. Nach zwei Vorrunden-Wochen ist mein Fazit klar: Zu viel, zu lange, zu schlecht. Zwei Wochen hat man gebraucht, um acht Mannschaften zu finden, die das 24er-Feld verlassen.

Von denen wird mir keiner fehlen, denn keiner ist mit Pech oder unverdient ausgeschieden. Im Gegenteil: Es sind noch Mannschaften im Rennen, die alles getan haben um rauszufliegen, es aber nicht geschafft haben.

Voila: Da haben wir also dann vier Gruppendritte, die weiter im Rennen sind. Einer hat gar kein Spiel gewonnen, die anderen eins. Keiner hat ein positives Torverhältnis. Herzlich willkommen unter den Top 16 Europas. Verdient habt Ihr es nicht.

Um zu ermitteln, welcher dieser fußballerischen Hungerleider eine Runde weiterkommt und gegen wen er dann antreten muss, brauchte man schon einen mathematisch begabten Helfer. Um es dann auch noch zu begreifen und anderen zu erklären, war ein Studium notwendig. Angeblich hatten einige Teams extra für diesen Zweck einen Diplom-Mathematiker in den Trainer- und Betreuerstab geholt.

Und das alles nur, weil Herr Platini bei seiner letzten Wiederwahl die Stimmen der kleineren Verbände brauchte. Allein deshalb ist der Wettbewerb so aufgebläht und kommt zwei Wochen lang fußballerisch nicht auf Touren. Jede Hausfrau weiß: Getretener Quark wird breit, nicht stark.

Die Hälfte der Mitgliedsverbände der UEFA darf bei der Endrunde dabei sein — welch eine gnadenlose Auslese. Entwertet wurde so auch die Qualifikation, die früher ein verlässlicher Garant für ein Element war, das Voraussetzung für guten Fußball ist: Spannung!

Aber heute: Keiner der Großen blieb auf der Strecke — nur die Niederlande haben das hinbekommen. Was aber an ihnen selbst und nicht an den Gegnern lag.

Alle Experten sagen dasselbe, aber einen Weg zurück zu dem optimalen Feld mit 16 Mannschaften wird es nicht geben. Erstens weil im Fußball noch nie ein Wettbewerb verkleinert wurde. Und zweitens, weil die kleineren Verbände sich das nicht mehr nehmen lassen — sie haben ja die Stimmen...

In Europa gibt es deshalb nur noch ein halbes Dutzend Länder, die die Infrastruktur für dieses aufgeblähte Turnier bereitstellen können. Schon zuletzt brauchte man zwei Gastgeber (2008 Österreich und die Schweiz, 2012 Polen und die Ukraine), für die aber ein 24-er-Feld zu groß wäre.

Und was macht die UEFA? Verwaltet das absurde Erbe von Monsieur Platini und verteilt die EM 2020 über den ganzen Kontinent. Überschrift: Wenn aus dem Irrsinn Wahnsinn wird.

Für die deutsche Mannschaft setzt sich im Achtelfinale die Konstellation aus den Gruppenspielen fort: Alles andere als ein Sieg wäre eine Überraschung. Wenn die Mannschaft einigermaßen seriös auftritt — und dazu ist sie erfahren genug — kann sie den Einzug ins Viertelfinale gar nicht vermeiden.

Wichtig ist angesichts der der dann endlich anstehenden echten Herausforderungen, dass die Mannschaft den Hebel umlegt: „Weckt uns, wenn es richtig losgeht!“ Ich bitte um Verständnis, dass ich jetzt noch keine taktische Bewertungen abgeben möchte. Wie soll ich den Stand der Nationalmannschaft nach diesem 1:0 gegen Nordirland beurteilen?

Mein Favoritenkreis — Frankreich, Deutschland, Spanien mit Nachrücker Italien — hat sich noch mal erweitert: Kroatien hatte immer schon Klassefußballer, bringt jetzt aber auch die Leidenschaft und den Teamspirit mit, um auch die ganz Großen schwer zu schocken.

Also: Jetzt geht´s endlich los. Ich freie mich auf mehr Spannung, mehr Niveau und mehr Tore. Zwischendurch werde ich einen Antrag bei der UEFA einreichen. Da gibt es nämlich noch ein Land, das sanges- und trinkfreudige Fußballfans hat. Deshalb fordere ich eine Wildcard für Schottland. Auf einen mehr oder weniger kommt´s ja bei der EM nicht an.

Für das Procedere zur Berechnung der Achtelfinalisten würde ich einen Forschungs-Auftrag an eine Elite-Uni vergeben. Es sind ja noch vier Jahre Zeit. Das müsste reichen.