EM-Tagebuch Marcel Reif über die Macht der alten Männer

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Fußballkommentator Marcel Reif schreibt für die WZ über die EM.

Foto: Foto: Paul Zinken/dpa

Die alten Männer sind zurück! Zum Beispiel Bastian Schweinsteiger. Natürlich wissen wir alle, dass er jetzt nicht auf Anhieb 90 Minuten spielen kann — aber für den Zusammenhalt, für den Spirit der deutschen Mannschaft ist diese wunderbare Schlusspointe von großer Bedeutung.

Natürlich auch für den Bundestrainer, denn der Glaube daran, dass er auch über Wasser laufen könnte, wenn es dem deutschen Fußball dienen würde, hat sich mit dieser Einwechslung ein bisschen mehr ausgebreitet.

Mir hat daran vor allem gefallen, dass dabei in dieser verkopften Welt des modernen Fußballs wieder mal aufgeblitzt ist, was Intuition oder Bauchgefühl bewirken können. Das macht die Faszination des Fußballs aus; für diese Momente, die alle Erwartungen auf den Kopf stellen und unvergessen bleiben, gehen die Menschen ins Stadion. Und nicht für anstrengenden Rasenschach.

Alte Männer, die ihr Team mitreissen und führen — haben Sie Andres Iniesta gesehen? Mit welcher Ruhe er die Spanier dirigiert hat, selbst, als ein Unentschieden drohte gegen Tschechien. Am Ende siegte der Europameister verdient und spielte für mich dabei besser, als es viele andere gesehen haben wollen. Und dann Gianluigi Buffon und seine Italiener! Wenn ich sehe, wie diese in Ehren ergraute Torwart-Legende, die alles im Fußball gesehen und gewonnen hat, hundert Meter wie ein Fohlen über den Platz galoppiert, um einem der wenigen Jungspunde zum Tor zu gratulieren — da geht einem das Herz auf.

Die Italiener haben keine Weltstars, etliche Spieler aus ihrem Kader sind in ihren Clubs nicht mal Stammspieler. Aber sie beherrschen noch immer meisterhaft die hohe Kunst der Verteidigung und können zielstrebig attackieren. Sie spielen, was sie können, sie sind ein eingeschworener Haufen. Wie sie den hochgelobten belgischen Himmelsstürmern den Zahn gezogen haben, war schlichtweg beeindruckend. Übrigens: Belgien hatte viel sehr gute Fußballer auf dem Platz. Aber keinen Leader, keinen großen alten Mann...

Für das Protokoll: Ich erweitere hiermit meinen Favoritenkreis neben Deutschland, Frankreich und Spanien um Italien. Warum die Engländer dazu gehören könnten, war gegen Russland zu sehen. Leider auch, warum sie nicht dazu gehören werden. Sie zeigten — angeführt von einem alten Mann mit Format namens Wayne Rooney — eine Stunde lang modernen schnellen Fußball. Dann ging ihnen die Luft aus, und zwar so sehr, dass selbst die mediokren Russen ihnen noch zwei Punkte klauen konnten.

Nur für den Fall, dass sich darüber jemand im Mutterland des Fußballs noch wundert: Was soll man erwarten, wenn die ausgeglichenste Liga der Welt mit 20 Mannschaften besetzt ist? Wenn es zwei Pokalwettbewerbe — mit Wiederholungsspielen bei Unentschieden! — gibt und man nicht mal zu Weihnachten eine kurze Verschnaufpause für die Profis einlegt?

Leider geht es auch an dieser Stelle nicht nur um Fußball. Gottseidank keine Deutschen, hat mancher gedacht, als die ersten Nachrichten von Prügeleien der Hooligans kamen. Am Sonntag waren es dann die Deutschen, hohlköpfig, braun eingefärbt, gewaltgeil und pervers. Das lässt einen kopfschüttelnd, fremdschämend zurück. Vor allem, wenn man die Ausgangslage berücksichtigt: Da findet eine EM statt, die angesichts des konkretesten terroristischen Bedrohungsszenarios der internationalen Sportgeschichte den größten denkbaren Aufwand an Sicherheitsmaßnahmen erfordert. Und dann halten diese Hohlköpfe weite Teile der Polizei damit auf, indem sie Stadtviertel zertrümmern und sich selbst und anderen den Schädel einschlagen. Unsäglich, unfassbar.

In den sogenannten sozialen Netzwerken scheinen andere Dinge wichtiger zu sein. Wenn es so viele Menschen bei dieser EM — und von der allgemeinen Weltlage zwischen Orlando und Syrien wollen mal gar nicht reden — gibt, die es am meisten kratzt, wenn sich ein erwachsener Mann zum vielleicht falschen Zeitpunkt und am falschen Ort an einer Stelle neu sortiert hat, an der es eben manchmal notwendig ist, dann stimmt etwas nicht mit uns.

Da hat gerade einer der Fußball-Nation mit einer Last-Minute-Einwechslung einen magischen Moment beschert — und der wird jetzt vorgeführt, weil er Schwitzflecken hat und sich mal an die Hose fasst? Kameraden der Sonne — damit will ich nichts zu tun haben, dafür bin ich dann doch schon zu alt.