„Vor niemandem Angst“ - Das Wikinger-Märchen aus Island

Nizza (dpa) - Aron Gunnarsson rannte mit nacktem Oberkörper und weit aufgerissenem Mund in die Kurve und trug nur noch die Kapitänsbinde am Arm. Gylfi Sigurdsson legte sich eine isländische Fahne um die Schultern, Kolbeinn Sigthorsson trug seine kleine Tochter auf dem Arm wie eine Trophäe.

Foto: dpa

Nach einem der rührendsten Fußball-Märchen der Gegenwart hüpften die Fans wikingerwild auf den Tribünen und wollten gar nicht mehr aufhören zu singen. Bundestrainer Joachim Löw zollte aus der Ferne Respekt - und die klagenden Worte des portugiesischen Topstars Cristiano Ronaldo klangen im Rückblick wie blanker Hohn.

Die Hymne „eg er kominn heim“ verbreitete nach dem Einzug ins EM-Viertelfinale Gänsehautstimmung im Stade de Nice an der französischen Mittelmeerküste - und bei den mehr als 10 000 Menschen auf den Straßen der Insel-Hauptstadt Reykjavík. Beim übertragenden öffentlich-rechtlichen isländischen Fernsehsender RÚV lag der Marktanteil am Montagabend bei unfassbaren 99,3 Prozent.

EM-Debütant Island, das mit Abstand kleinste EM-Land, diese anfangs belächelte Auswahl der Unbekannten mit den lustig klingenden son-Namen, den furchteinflößenden Tattoos und Vollbärten, steht nach einem 2:1-Sieg gegen England unter den besten Acht bei der EM.

„Das war für mich eine große Überraschung. Island hat sehr, sehr gut gespielt“, sagte Löw in Évian-les Bains. „Island hat eine gute defensive Struktur. Und wie sie mutig und selbstbewusst nach vorne gespielt haben, das war schon klasse“, lobte der Bundestrainer. Und nun will Island auch für Gastgeber Frankreich den Partyschreck spielen.

„Ich glaube, unser Land steht Kopf. Es ist ein stolzer Moment, er bleibt für den Rest unseres Lebens in unseren Erinnerungen“, sagte Gunnarsson, als er sich später ein grau-braunes Polo-Shirt über den muskulösen Oberkörper gezogen hatte und versuchte, das soeben Erlebte in Worte zu fassen. Ragnar Sigurdsson sagte die wunderbaren Sätze: „Wir sind Wikinger. Wir haben vor niemandem Angst. Wir haben England geschlagen, also können wir auch Frankreich schlagen.“

Nach dem größten Spiel ihres Lebens wartet nun am Sonntag (21.00 Uhr) im Final-Stadion von Saint-Denis das noch größere Spiel ihres Lebens. Und die Franzosen wissen, was auf sie zukommt. „Schreit nicht zu schnell Sieg! Gegen Island im Viertelfinale zu spielen, wird kein Spaß für die französische Mannschaft. Alles andere! Das ist weit weg von einem Vergnügen“, prophezeite „France Football“.

Auf allen Monitoren in den Katakomben liefen die Szenen des isländischen Sommermärchen-Abends in der Endlosschleife. Rooneys Foulelfmeter (4.) sowie die historischen Tore durch Ragnar Sigurdsson nur 80 Sekunden später (6.) und Sigthorsson (18.) bildeten dabei nur den Rahmen für das „größte Ereignis in der Geschichte des isländischen Fußballs“, wie es der neben Lars Lagerbäck gleichberechtigte Trainer Hallgrimsson formulierte. „Sie sind super organisiert und haben eine sehr gute defensive Struktur“, lobte Löw.

Die völlig losgelösten Fans in Island-Blau, ob im Stadion an der Côte d'Azur oder mit Wikingerhelmen auf dem Kopf auf dem Hügel Arnarhóll in der Innenstadt von Reykjavík, wollten gar nicht mehr aufhören zu singen, zu tanzen und zu trinken. „Ich glaube, sie haben die beste Zeit ihres Lebens“, sagte Islands Torhüter Hannes Halldorsson.

Nie zuvor hat ein sportliches Ereignis die Einwohner der kleinen Insel derart fasziniert wie dieses kontinentale Fußballturnier im Herzen Europas. Selbst die Präsidentenwahl am Samstag stand im Schatten dieser eigentlich durchschnittlichen und spielerisch limitierten, aber niemals aufgebenden und immer kämpfenden Auswahl.

„Wir gehen nach Paris! Ich traue meinen Augen nicht. Weckt mich nie auf! Weckt mich nie aus diesem verrückten Traum auf!“, brüllte der isländische Kultkommentator Gudmundur Benediktsson in sein Mikrofon. Die Fluglinie Icelandair wollte über neue Transportmöglichkeiten nachdenken, die Webseite der Airline Wow Air brach sofort zusammen.

Nur 330 000 Einwohner zählt Island. Nur ein Stammspieler (Gylfi Sigurdsson bei Swansea City in der Premier League) ist in einer der vier großen europäischen Ligen aktiv. Aber dieses Kollektiv war für all die Manchester-, Chelsea-, Liverpool- oder Tottenham-Profis nicht zu bezwingen. „Genial“, titelte die französische Sportzeitung „L'Équipe“ und druckte das Bild des bärtigen und trikotlosen Gunnarsson mit weit aufgerissenem Mund auf der Titelseite.

Was hatte Cristiano Ronaldo noch nach dem 1:1 zum Auftakt gegen Island noch total frustriert gesagt? „Sie haben gefeiert, als wären sie Europameister geworden. Meiner Meinung nach zeugt das von kleiner Mentalität, deswegen werden sie nichts erreichen.“