Obsession Elfmeter: England scheitert wieder vom Punkt
Kiew (dpa) - Elf Meter entfernt und für England doch unerreichbar: Nach dem Verpassen des EM-Halbfinals gegen Deutschland und einer neuen Pleite in ihrer Alptraumdisziplin Elfmeterschießen schlichen Wayne Rooney & Co. wie in Trance über das Spielfeld in Kiew.
Das Mutterland des Fußballs habe ein „Penalty-Trauma“, stöhnte Coach Roy Hodgson nach der sechsten England-Schlappe im siebten Shootout, und Kapitän Steven Gerrard sprach enttäuscht von „gebrochenem Herzen“. Der „Daily Telegraph“ witterte gar ein „Spiel mit dem Teufel“.
Vor der finalen Entscheidung vom Kreidepunkt war England beim 0:0 gegen Italien 120 Minuten lang die klar schwächere Mannschaft. „Wir fahren erhobenen Hauptes nach Hause“, sagte Gerrard, „aber das nutzt uns jetzt auch nichts. Wir fühlen großen Schmerz.“ Statt Halbfinale in Warschau hieß es Kofferpacken im verregneten Teamcamp von Krakau.
Im Duell der Fußball-Großmächte hatte sich England viel vorgenommen, doch gegen die „Squadra Azzura“ erlebte die Mannschaft um Stürmerstar Rooney ein ums andere Mal ihr blaues Wunder. Nach hoffnungsvollem Beginn versickerten die Angriffe der „Three Lions“ immer öfter im bestens organisierten Mittelfeld der Italiener um Andrea Pirlo. Stattdessen erarbeitete sich etwa Mario Balotelli Chance um Chance. England hatte im Elfmeterschießen bei den Fehlversuchen von Ashley Young und Ashley Cole vielleicht Pech, aber zuvor mit Sicherheit auch viel Glück. „Wir haben unser Bestes versucht. Ob es genug war, darüber kann man streiten“, sagte Hodgson.
Nach dem erneuten vorzeitigen Scheitern seiner Mannschaft bei einem großen Turnier will sich Hodgson nun ausgerechnet den Erzrivalen Deutschland zum Vorbild nehmen. „Schauen Sie, wo das deutsche Team 2006 stand. Sie hatten ein junges Team, das nicht jeder kannte, sie hatten einen neuen Trainer und sie hatten noch einige erfahrene Spieler“, sagte der 64-Jährige. „ Jeder hat gesehen, was sich daraus entwickelt hat. Daran müssen wir uns orientieren.“
Es ist wie ein Fluch: England ist zum sechsten Mal in den vergangenen 22 Jahren bei einer WM oder EM nach Elfmeterschießen gescheitert. Die sorgfältigen Sonder-Übungseinheiten erwiesen sich bei nur zwei Treffern als wirkungslos. „Die spezielle Atmosphäre und Nervenanspannung kann man nicht trainieren, sagte Hodgson. Das von einem Deutschen erfundene Elfmeterschießen sei für England zu einer „Obsession“ geworden, einer Besessenheit, klagte Hodgson. „Wir sind bei diesem Turnier in regulärer Spielzeit ungeschlagen geblieben und fahren trotzdem nach Hause. Das ist sehr enttäuschend.“
Gegen Italien versuchte es England viel zu oft mit Kurzpassspiel, vor allem Rooney blieb wie zuvor gegen die Ukraine (1:0) unter seinen Möglichkeiten. Ungeduldig hatte England auf den zunächst gesperrten Stürmer von Manchester United gewartet - jetzt drängt sich der Verdacht auf, dass die beiden Rooney-freien EM-Spiele gegen Frankreich (1:1) und Schweden (3:2) viel besser liefen.
Das schmerzhafte Scheitern wirft auch ein grelles Schlaglicht auf Englands verkorkste EM-Vorbereitung. Nach Rassismus-Vorwürfen gegen John Terry hatte der Abwehrspieler die Kapitänsbinde abgeben müssen, aus Protest trat Nationaltrainer Fabio Capello nur vier Monate vor der Europameisterschaft zurück. Erst im Mai übernahm Hodgson. Hinzu kamen die Sperre für Rooney und die Verletzungen von Frank Lampard und drei weiteren Leistungsträgern. Dass auch Italien unter viel Unruhe im Umfeld litt, ist ein schwacher Trost.