„Willkommen in Italien!“ - Karneval in Köln
Köln (dpa) - Als römische Kolonie hat Köln vor zweitausend Jahren begonnen, und am Donnerstagabend sind Teile der Stadt erneut italienisch. Die Zugstraße in der Südstadt hat sich in ein grün-weiß-rotes Fahnenmeer verwandelt, es herrscht ohrenbetäubender Jubel.
Mit einem so klaren Sieg hatte hier keiner gerechnet.
„Als Einwanderer ist man immer einen Schritt hinter den Einheimischen, und deshalb klammert man sich an solche Ereignisse, die einem das Gefühl geben, dass man doch vollwertig ist“, erklärt Dorian Tessore-Loos (45), der 25 Jahre in der Nähe von Rom verbracht hat und jetzt in Deutschland lebt. „Es ist so eine Art Revanche.“ Seit dem frühen Abend ist die Straße für den Autoverkehr abgesperrt, weil sich mehrere hundert Anhänger der „Squadra Azzurra“ vor dem Fernsehschirm des Carmelo Bennardo (51) versammelt haben. Bennardo ist Sizilianer und eine Institution in der Südstadt. Seit 13 Jahren betreibt er die Bar „Formula Uno“. Dort gibt es sehr schwarzen Espresso, und wenn man zum Klo will, muss man durch einen dunklen fensterlosen Raum, in dem ein alter Herr ganz allein vor seinem eigenen Fernseher sitzt. Sizilien, wie gesagt.
Kurz vor dem Anpfiff hat Bennardo an diesem Abend das Fenstersims erklommen und vor der Menge eine kurze Rede gehalten, erst auf italienisch, dann auf deutsch. „Es ist ein Spiel!“, hat er geschrien. „Es ist egal, wer gewinnt - hinterher wird gefeiert!“ Dann liefen die Azzurri auf, und die Italiener sangen - sangen ihre Nationalhymne von den „Brüdern Italiens“ mit solcher Textsicherheit, Inbrunst und albernen Ausgelassenheit, dass einige Deutsche leise mit zu summen begannen. Dann kam „Einigkeit und Recht und Freiheit“ und niemand sang mit, aber hinterher gab es donnernden Applaus - von den Italianos! Dies sind die Enkel der ersten Gastarbeiter-Generation. Sie sprechen Deutsch mit kölschem Akzent, und wie gut ihr Italienisch ist, bleibt ihr Geheimnis.
Ines Slodczyk ist in schwarz-rot-goldener Aufmachung in die Zugstraße gekommen. „Die sind alle so lieb und friedlich hier, da wird man nicht schlecht behandelt“, versichert sie. Sabrina Agneletti (27) trägt auf der einen Wange schwarz-rot-gold, auf der anderen grün-weiß-rot. „Ich freu' mich für beide“, sagt sie.
Der 23-jährige Fabricio hat kurzerhand ein ganzes Flaggen-Lager aufgekauft: „Sobald das erste Tor für Italien fällt, gebe ich den Sachen hier noch 15 Minuten.“ Er soll Recht behalten. Nach Mario Balotellis Führungstreffer sind die Fahnen im Nu ausverkauft. Die Stimmung kocht in der „nördlichsten Stadt Italiens“. Doch selbst nach dem 2:0 geben sich die Italiener noch nicht siegesgewiss, denn das hieße, das Schicksal herauszufordern. „Das hat mit Aberglaube zu tun“, erklärt Luigi Nobile (32). „Wir haben früher einen Schrein aufgebaut und den Fernseher mit Knoblauch und Hörnern geschmückt.“
Zweite Halbzeit. Der Anschlusstreffer sorgt noch einmal für leichte Nervosität, und doch glaubt kaum einer daran, dass das Spiel nochmal kippen könnte. Je schlechter es um die deutsche Sache steht, desto größer scheint der Anteil der Zuschauer zu werden, die sich nicht als Halbitaliener oder Italiener der dritten Generation begreifen, sondern einfach nur als Italiener. Bei einigen hat man gar den Verdacht, sie verstünden vom italienischen Kommentar auch nur die häufig wiederholten Ausrufe „Schweinsteiger“. Dennoch schwenken sie entschieden ihre grün-weiß-roten Flaggen.
Abpfiff. Das Unglaubliche ist geschehen - Deutschland, das übermächtige Deutschland hat verloren. Die Zugstraße kocht. Die Schriftzüge der Ristorantes leuchten im Dunkeln, die Rotweingläser klirren, das riesige grün-weiß-rote Banner zwischen den Häusern wiegt sachte im Wind. Dies könnte Italien sein - dies ist Italien! Ein Mann im azurblauen Nationaltrikot küsst einen Deutschen. „Willkommen in Italien“, sagt er.