Herr Meyer, sind Fußballer empfindlich?

Der Arzt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft über Verletzungsrisiken und die Überbelastung bei Spitzensportlern.

Foto: dpa

Herr Meyer, die Fußball-Bundesliga und die Nationalelf klagen über viele verletzte Spieler. Täuscht der Eindruck, oder ist das Verletzungsrisiko im Fußball tatsächlich gestiegen?

Foto: dpa

Tim Meyer: Das ist ein häufig geäußerter Eindruck, der zumindest durch sauber erhobene Daten nicht zu belegen ist, weil bislang keine entsprechenden Statistiken existieren. Die verfügbaren Zahlen von Fifa, Uefa und Champions League ergeben jedenfalls keinen so klaren Trend.

Auch nicht nach einer WM?

Meyer: Dass Spieler, die an einer WM teilnehmen, durch die kürzere Sommerpause und die verspätet beginnende Vorbereitung, aber gerade im Erfolgsfall auch durch Prozesse auf anderen Ebenen beeinflusst werden, ist klar. Darüber hinaus lässt sich als gesichert ansehen: Das Spiel ist schneller geworden, weshalb es möglicherweise mehr, mit Sicherheit aber mit höherer Dynamik auftretende Kontaktverletzungen gibt. Aber auch hier lässt sich über Zahlen wenig Gesichertes sagen.

Dortmunds Trainer Jürgen Klopp prophezeit, dass es in zehn Jahren keinen Spieler mehr geben wird, der seine Karriere mit 35 beendet.

Meyer: Was zwar noch zu beweisen wäre. Aber ich finde die Aussage von Klopp angesichts des hohen Tempos und der hohen Wettkampfdichte nachvollziehbar. Prinzipiell glaube ich, dass Top-Spieler, die hervorragend trainiert sind, Tempo und Dynamik des modernen Fußballs körperlich auch tolerieren. Inwieweit das auch über viele Saisons gilt, muss sich für jede Spielergeneration neu zeigen.

Sie haben ja selbst einmal Fußball gespielt und erinnern sich sicher auch noch daran, dass das Schuhwerk früher weniger Halt gab, als die Schuhe, die Profis heute tragen. Kann es sein, dass die Spieler zwar besser stehen, Bänder und Sehnen die abrupten Richtungs- und Tempowechsel nicht in gleicher Weise aushalten?

Meyer: Mit Sicherheit ist der Stützapparat — und dazu zählen ja auch Bänder und Sehnen - heute nicht schlechter ausgebildet als früher. Vielleicht wäre es für eine Vermeidung von Rotationsverletzungen im Kniegelenk, z. B. Kreuzbandrisse, günstiger, wenn der Schuh in dem Moment dem Fuß nicht zu stark fixieren würde. Andererseits gibt es Situationen, in denen ein sicherer Stand Verletzungen vorbeugt.

Die Bundesliga stöhnt unter englischen Wochen, Champions League, Europa League und Länderspielen. Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge sagt, das gesunde Maß sei längst überschritten. Sammer klagt, zwei Tage Erholung für die Spieler seien zu wenig. Sehen Sie das genauso?

Meyer: Die Stammspieler der Spitzenvereine sind tatsächlich an die Grenzen der Belastbarkeit gekommen. Aber das gilt natürlich nicht für alle Vereine in gleichem Maße. Denn unterhalb von Champions League und Europa League reduziert sich die Wettkampfdichte, auch wenn dort ebenfalls Nationalspieler für Länderspiele verschiedener Nationen abgestellt werden müssen.

Wie groß ist der Druck der Vereine und Trainer auf Profis, trotz Verletzung zu spielen, oder sich fit spritzen zu lassen?

Meyer: Viele Trainer stehen unter einem großen Druck. Also ist es nachvollziehbar, wenn sie die Ausfallzeit eines wichtigen Spielers auf das notwendige Minimum reduzieren wollen. Das heißt aber nicht automatisch, dass sie ihn früher als medizinisch vernünftig spielen lassen. Vereinsärzte sind dann natürlich in einer schwierigen Situation, weil sie einerseits auch bestrebt sind, schnelle Heilung zu erreichen, andererseits eine erneute Verletzung ihnen angekreidet werden kann. Aus dieser Konstellation können sich Konflikte ergeben, die man gelegentlich austragen, auf jeden Fall aber aushalten muss.

Wenn es hart auf hart kommt — wer stellt auf? Der Trainer oder der Arzt?

Meyer: Bei den Auswahlmannschaften des DFB habe ich noch nie erlebt, dass eine begründete ärztliche Entscheidung vom Trainer überstimmt wurde. Im Gegenteil: Manchmal hat der Trainer mit Rücksicht auf die Vereine sogar noch gebremst, obwohl medizinisch schon wieder mehr denkbar war. Vermutlich ist das in den Vereinen aber wegen der häufigeren Spiele oftmals schwieriger.

Die Klagen der Fußballer über zu viele Spiele kosten Eishockey-Profis, Handballern oder Volleyballern nur ein Lächeln. Sind die Fußballer Weicheier?

Meyer: Früher dachte ich auch einmal, dass die Trainingsbelastung im Fußball deutlich höher sein könnte, wenn man sie mit anderen Sportarten vergleicht. Mittlerweile sehe ich das nicht mehr so. Ein Fußballspiel vor 60 000 Leuten im Stadion und mit der entsprechenden Medienaufmerksamkeit ist von der psychischen Beanspruchung nicht mit einem Wettkampf in anderen Sportarten vor 300 Zuschauern zu vergleichen. Insbesondere die Summe der vielschichtigen Belastungen führt dazu, dass Fußballprofis für mich nachvollziehbar über ihren engen Kalender klagen.