Jérôme Boateng: "Die Nationalelf ist eine verschworene Einheit“
Düsseldorf. Fußball-Nationalspieler Jérôme Boateng spricht im Interview über die WM-Qualifikation, modernes Abwehrspiel, Muhammad Ali und eine SMS von Thomas Müller.
WZ: Das Länderspiel in der WM-Qualifikation in Kasachstan wird um Mitternacht Ortszeit angepfiffen. Wird Ihr Biorhythmus da mitspielen?
Jérôme Boateng: Einen Tag geht das mal. Wichtig ist, dass wir konzentriert sind und den Gegner nicht unterschätzen. Wir wollen in den zwei Spielen gegen Kasachstan sechs Punkte holen und dabei auch unser Spiel verbessern, gerade gegen eine Mannschaft, die tief stehen und hauptsächlich verteidigen wird.
Wie definieren Sie Ihre Rolle in der Nationalelf?
Boateng: Ich bin seit 2009 dabei und habe immer alles für die Mannschaft gegeben. Ich habe zwei Turniere gespielt. Mal rechts, mal links. Ich denke aber, Außenverteidiger ist mit meiner Größe von 1,92 m nicht meine Idealposition.
Sie hatten 2012 ein gutes Länderspiel-Jahr, absolvierten 9 von 14 Partien von Beginn an, allerdings immer als rechter Außenverteidiger. Beim FC Bayern indes sind Sie eine Konstante in der Innenverteidigung. Wo sehen Sie Ihre Zukunft?
Boateng: Ich sehe mich eher als Innenverteidiger. Ich bringe alles mit, was ein Spieler auf dieser Position braucht. Der Konkurrenzkampf ist dort natürlich sehr groß. Aber wenn der Trainer auf mich setzt, bin ich bereit. Ich kann immer noch rechts spielen, das ist kein Problem und macht auch Spaß. Aber ich glaube, dass ich innen noch besser bin, wobei ganz klar ist, dass ich auf der Position spiele, auf der der Trainer mich aufstellt.
Beim FC Bayern bildeten Sie in dieser Saison häufig an der Seite von Dante das Paar in der Innenverteidigung. Gibt es etwas, was Sie von dem Brasilianer lernen können?
Boateng: Es macht Spaß, mit ihm zu spielen. Er ist ein sehr guter Spieler und mit 29 jetzt in seinen besten Jahren. Er hilft mir und ich kann ihn immer fragen, wenn ich etwas auf dem Herzen habe. Ich habe versucht, von jedem Innenverteidiger, mit dem ich zusammengespielt habe, dessen Stärken abzuschauen. Man kann sich immer verbessern.
Erklären Sie uns die Unterschiede der beiden Positionen.
Boateng: Als Innenverteidiger musst du den Spielaufbau machen, die Spieler vor dir dirigieren. Du musst nicht so viel laufen wie außen, aber gegen die Stürmer immer hochkonzentriert bleiben. Ich versuche so wenig wie möglich zu foulen, muss aber trotzdem aggressiv sein. Auch Stellungsspiel ist in der Innenverteidigung extrem gefragt. Ich bin erst 24 Jahre alt und glaube, dass ich mich in allen Bereichen noch verbessern kann. Dabei höre ich auch auf Kritik von Leuten, von denen ich weiß, dass sie es ehrlich mit mir meinen.
Zum Beispiel?
Boateng: Mein älterer Bruder, mein Vater, und natürlich mein Trainer bei den Bayern, Jupp Heynckes. Und hier bei der Nationalmannschaft Jogi Löw.
Stichwort Löw. Der Bundestrainer hat Sie jüngst in einem Interview als „schnell, kopfball- und zweikampfstark“ gelobt, aber kritisiert, dass sie bisweilen zu unkonzentriert seien und unnötige Platzverweise kassieren. Gehen Sie mit dieser Sicht konform?
Boateng: Bei der Nationalmannschaft habe ich einen Platzverweis erhalten, der war gleich im ersten Spiel. Bei Bayern bin ich in der Champions League gegen Borissow vom Platz geflogen. Das war sicherlich eine vermeidbare Aktion. Ich bin dabei, mich zu verbessern. Wer sich die Statistik der Saison anschaut, wird sehen, dass bei mir ganz wenige Fouls zu Buche stehen. Keiner ist fehlerfrei, aber ich arbeite daran: Über 90 Minuten konzentriert zu sein, ist sicher eine Lernaufgabe für mich.
Mit dem FC Bayern feierten Sie 2012 eine Vize-Saison mit drei zweiten Plätzen. Im Frühjahr 2013 ist Ihr Klub wieder in drei Wettbewerben aussichtsreich im Rennen. Wie ausgeprägt ist der Wille, es diesmal dreimal zu einem guten Ende zu bringen?
Boateng: Sehr ausgeprägt. Jeder denkt an die Ziele, und in der Meisterschaft ist es ja nicht mehr weit. Wichtig sind aber auch die anderen Wettbewerbe. Im DFB-Pokal-Halbfinale kommt Wolfsburg sicher nicht nach München, um einfach nur Hallo zu sagen. Und in der Champions League haben wir mit Juventus Turin im Viertelfinale einen sehr starken Gegner, der schwer zu spielen und unangenehm ist. Wir müssen immer eine Top-Leistung bringen, um weiter zu kommen.
Wie häufig haben Sie dieses verflixte Champions-League-Finale gegen Chelsea noch vor Augen?
Boateng: Schon noch ab und zu. Verblassen wird das nie, ich werde das Spiel nie in meinem Leben vergessen. Es ist brutal, wenn du drei Minuten vor Schluss führst und am Ende so eine Chance liegen lässt.
Manche schöpfen gerade aus bitteren Niederlagen Stärke . . .
Boateng: Das geht, sicher. Mir ist eine Szene besonders in Erinnerung geblieben: Wir waren ja alle total down. Da kam zwei, drei Tage nach der Niederlage gegen Chelsea eine SMS von Thomas Müller an alle Spieler. Er schrieb so etwas wie: „Kopf hoch, jetzt geht’s weiter und in den nächsten Jahren holen wir dieses verdammte Ding.“ Ich fand das super. Aus so einem Mannschaftsgefühl lässt sich Kraft schöpfen. Ich war zwar 2010 noch nicht dabei, aber da war der FC Bayern auch schon im Finale. Jetzt hoffe ich, dass aller guten Dinge drei sind und wir den Titel vielleicht schon in dieser Saison gewinnen.
Ihr Bruder Kevin-Prince Boateng spielt beim AC Mailand und kennt den italienischen Fußball gut. Haben Sie sich mit Ihm schon über Juventus ausgetauscht?
Boateng: Nein, aber das werde ich sicher noch machen. Im Moment interessiert mich das nicht, jetzt zählt nur die Nationalmannschaft.
In der Bundesliga ist Ihnen jüngst Ihr erstes Bundesligator gelungen. Wie wär’s nun mit dem Premierentreffer in der Nationalelf?
Boateng: Das wäre schön, klar. Da habe ich zwar noch keine 130 Spiele, sondern 28, aber das ist für mein Alter ja auch schon eine ordentliche Zahl. Wichtiger ist für mich jedoch der Erfolg der Mannschaft. Wenn ich dann noch ein Tor erziele, wäre das nur das Sahnehäubchen obendrauf.
Sie hatten es angesprochen: Sie haben bereits bei zwei Turnieren gespielt. Dennoch, wäre die WM in Brasilien ein besonderes Highlight?
Boateng: Eine WM ist immer ein Highlight. Aber ich gebe zu, dass Brasilien als Land mit einer enormen Fußballbegeisterung einen besonderen Reiz ausübt. Um da dabei zu sein, lohnt es sich, in den Qualifikationsspielen alles rauszuholen. Wir sind mit unserer Mannschaft auf einem sehr guten Weg. Die Mischung aus jungen Talenten und erfahrenen, älteren Spielern passt einfach. Aber der Weg ist noch weit. Und im Moment zählt einzig und allein die Qualifikation, die auch über Kasachstan führt.
Nach dem Halbfinal-Aus bei der EM gegen Italien gab es Kritik an den Spielern, aber erstmals massiv auch am Bundestrainer und seiner taktischen Ausrichtung. Hat dies das Mannschaftsgefüge verändert?
Boateng: Nein, wir sind eine verschworene Einheit. Die Spieler verstehen sich gut, es gibt keine ausgeprägte Grüppchenbildung. Natürlich gibt es manchmal auch Reibungen, aber ich halte das für wichtig. Wir wollen alle in eine Richtung und haben ein Ziel. Gegen Italien war letztlich die Tagesform entscheidend: Wir haben einen schlechten Tag erwischt, Italien einen guten.
Sie sind ein großer Basketball-Fan. Kennen Sie Dirk Nowitzki?
Boateng: Ich hatte mal die Ehre, ihm kurz Hallo zu sagen und habe auch ein signiertes Trikot von ihm. Ich verfolge die Spiele von Dallas in der NBA, so gut es geht. Er ist ein toller Sportler. Was er für einen Weg eingeschlagen hat, ist beeindruckend. Ich kenne ihn zwar nicht näher, aber so wie er in der Öffentlichkeit rüber kommt, scheint er auf dem Boden geblieben zu sein. Das gibt es nicht so oft.
Auf Ihrer Homepage nennen Sie Michael „Air“ Jordan als Vorbild. Woher kommt der Bezug zum Basketball?
Boateng: Ich habe als kleiner Junge sehr viel Basketball gesehen, und damals war eben Michael Jordan der Top-Mann in der NBA. Er hat mich total begeistert, wie im übrigen auch der Boxer Muhammad Ali.
Muhammad Ali auch wegen seines Wesens und seines Kampfes für die Rechte der Schwarzen?
Boateng: Ja, klar. Ich denke, dass es zu seiner Zeit in den 60er und 70er Jahren als Schwarzer noch viel schwieriger war, anerkannt zu werden. Gerade sein Weg, wie er das gemeistert hat, beeindruckt mich. Ali war manchmal dickköpfig, aber er hat viel für die Anerkennung der Schwarzen in der Gesellschaft erreicht. Er ist ein Vorbild.