Interview Marcel Reif über die Bayern, Kommerz im Fußball und seine Karriere

München. „Wenn Sie dieses Spiel atemberaubend finden, dann haben Sie es mit den Bronchien...“ Mal flapsig, mal analytisch, aber immer anders als die anderen: So hat Marcel Reif 30 Jahre lang Fußballspiele live kommentiert.

Marcel Reif hört Ende der Saison als Fußballkommentator auf.

Foto: dpa

Am Saisonende ist Schluss, den letzten Bundesliga-Spieltag verfolgt er im heimischen München. Am 28. Mai sitzt er zum letzten Mal für den Pay-TV-Sender Sky am Mikrophon — beim Finale der Champions League zwischen Real und Atletico Madrid in Mailand. Ein Gespräch über Fußball, Fernsehen und Fußball im Fernsehen.

Ihr letztes Spiel als Kommentator wird das Champions League-Finale sein — ein würdiger Abschluss, aber leider ohne den FC Bayern.

Natürlich hatte ich mir ein Finale Bayern gegen Real gewünscht! Aber bitter ist es vor allem für den Club, denn die Bayern haben wahrscheinlich die am besten ausgebildete Mannschaft der Welt...

...die aber ausgeschieden ist...

...gegen eine Mannschaft, die nicht annähernd das individuelle fußballerische Potenzial hat wie die Bayern! Erklären man das kaum, wobei ich glaube, dass die Bayern nicht im Rückspiel ausgeschieden sind, sondern in den ersten zwanzig Minuten in Madrid. Egal, was man von dem Typen hält: Aber Diego Simeone hat geschafft, was die große Kunst eines Trainers ist — aus dem Team mehr zu machen, als die Summe der Einzelteile hergibt.

Möchten Sie sich noch einschalten in die „Was-bleibt-von-Pep?“-Debatte?

Guardiola hat den Fußball des FC Bayern weitergebracht, er hat dem deutschen Fußball Impulse gegeben. Dafür bekommt er Respekt und Anerkennung. Aber geliebt wird er von den Fans nicht, weil er menschlich unnahbar geblieben ist, geradezu undurchsichtig. Guardiola hat sich nie bemüht, seine Ideen zu erklären, es gibt keine substanziellen Interviews. Wer kein Interesse daran hat, verstanden zu werden, muss damit rechnen, missverstanden zu werden.

Aber Sie als Champions League-Kommentator sprechen doch vor den Spielen mit den Trainern.

Mit jedem — bis auf Guardiola. Mit ihm das übliche Hintergrundgespräch zu führen, war nie im Bereich des Möglichen — er war unerreichbar, wie auf einem anderen Stern.

Warum ist er so, wie er ist?

Guardiola ist im Fußball auf der Suche nach dem Heiligen Gral, er jagt dem Schlüssel zum perfekten Spiel hinterher. Er will das Spiel kontrollieren und vorherbestimmen bis ins letzte Detail; Faktoren wie Zufall, Glück oder Intuition will er nicht akzeptieren. Er sucht nach dem perfekten Spiel, aber das gibt es ebenso wenig wie die ewige Jugend.

Und jetzt kommt Carlo Ancelotti...

...der den Bayern richtig gut tun wird. Ich glaube, die Bayern werden unter Ancelotti die besten Bayern aller Zeiten werden. Die Spieler können nun dieses riesige Spektrum an Fähigkeiten, die sie bei Guardiola dazugelernt haben, mit neuer Freude und Freiheit ausschöpfen. Nach dem sehr verkopften Pep kommt nun wieder einer, der die Sprache der Fußballer spricht, Einfachheit und Spaß zurückbringt. Carlo Ancelotti reicht manchmal eine Geste, um in einem Spieler etwas auszulösen.

Sie galten mal als Vertreter der Fußball-Romantik. Hat Ihnen das die Geldmaschine Champions League ausgetrieben?

Erstens: Mein Bedarf an Fußball-Romantik ist gedeckt, wenn ab und zu einfach das Unmögliche geschieht — so, wie neulich in Liverpool, als eine Mannschaft mit elf mittelmäßigen Spielern eine viel, viel bessere Mannschaft nach klarem Rückstand 4:3 besiegt hat. Ich war übrigens dabei, als normaler Zuschauer mit meinem Sohn, und möchte aus diesem Anlass zu Protokoll geben: Nach diesem unvergleichlichen Erlebnis an der Anfield Road möchte ich „You´ll never walk alone“ nie wieder in irgendeinem anderen Stadion hören — nur in Liverpool.

Und zweitens: Ich habe Menschen auf Tore kicken sehen 5000 Meter über dem Meeresspiegel in Peru und auf den Malediven auf Null Meter, da standen auch Tore. Da war mir klar: Der Fußball wird uns alle überleben, den kriegt keiner kaputt.

Auch nicht der Kommerz?

Die Champions League ist Fluch und Segen — ein Segen für die, die drin sind, ein Fluch für die, die nicht drin sind. Saison für Saison klafft die Schere weiter auseinander. Es ist noch gar nicht mal so lange her, da war Werder Bremen öfter in der Champions League als Bayern München — aber es kommt einem vor, als sei das eine Ewigkeit her, weil die Vorstellung heute so unwirklich ist. Werder wird nie wieder in die Champions League kommen. Bayern und Dortmund spielen um die erste deutsche Meisterschaft, Leverkusen, Wolfsburg und bald auch Leipzig spielen um die zweite deutsche Meisterschaft, manchmal mischen Schalke und Gladbach mit. Der Rest spielt um den Klassenerhalt, und das ist für die auch eine Art Titelgewinn. Das ist die Spannung der Bundesliga — und der französischen Liga, der spanischen, der italienischen...

...aber nicht der englischen Premier League!

In dieser Saison, nur in dieser Saison. Es ist so, als habe der Fußball-Gott gesagt: Schaut her, ich zeige euch noch einmal, wie es früher war. Das ist wunderbar, ein Märchen — aber kein Trend. Noch einmal werden es die englischen Topclubs nicht schaffen, mit derart wahnsinnig viel Geld so wahnsinnig viele Fehler zu machen.

RB Leipzig gibt viel Geld aus und macht immer weniger falsch.

Ja, und? Da nutzt jemand die Möglichkeiten, die der Markt bietet, sachgerecht und nachhaltig. Die Menschen freuen sich auf die Bundesliga, sie haben ein tolles Stadion und sehen eine junge, spielfreudige Mannschaft. Vor ein paar Jahren noch spielten die besten Leipziger Clubs in der 5. Liga, und wenn Sachsen gegen Lok zum Derby antrat, kreisten Polizei-Hubschrauber, weil die Fans sich die Köpfe einschlugen. Und wenn jetzt einer fragt: Ja, aber wo ist denn die Tradition? Dann sagen die, und zwar mit Recht: Tradition? Wozu brauchen wir Tradition?

Als Sie Ihre Karriere als Sportjournalist vor über 30 Jahren beim ZDF begannen, standen Sie den Entwicklungen im modernen Fußball kritischer gegenüber.

Mag sein. Klar ist jedenfalls: Dieses Rad kannst Du nicht mehr zurückdrehen. Die Frage ist: Muss man es weiterdrehen? Kann man die Schraube der Kommerzialisierung weiterdrehen? Brauchen wir die Europaliga, wenn man aus den nationalen Ligen und der Champions League nicht mehr rauspressen kann? Ich glaube, dass auch bei dieser Schraube die Handwerker-Weisheit gilt: Nach fest kommt ab. Und was die kritische Haltung angeht: Wer regt sich denn auf über aufgeblähte EM-Turniere oder die Langeweile in der Gruppenphase der Champions League? Journalisten und Ultras — aber die Stadien sind voll wie nie, die Einschaltquoten hoch wie nie. Vielleicht kommen wir da ein bisschen spät mit unserem Kampf gegen den Kommerz.

„Jetzt habt Ihr ja noch so einen Zauberer. Wie heißt der? Reif oder wie? Der spricht wunderbare politische Kommentare. Aber, bittschön, lasst ihn vom Fußball weg.“ Mit diesen Worten wehrte sich Franz Beckenbauer 1986 im Aktuellen Sportstudio gegen Ihre kritischen Bundesliga-Berichte. Erinnern Sie sich?

Als wenn es gestern gewesen wäre. Ich saß zu Hause auf dem Sofa und dachte: Das war´s jetzt mit Dir als Sportreporter — die Lichtgestalt hat Dich mal eben im Vorbeigehen einen Kopf kürzer gemacht.

Es kam anders.

Weil Dieter Kürten noch in der Sendung dem Kaiser widersprach und sich vor mich und die Kollegen stellte. Das war damals eine große Debatte: Die Bundesliga und auch der DFB machten kritische Berichte mitverantwortlich für die damalige Krise des Fußballs. Kürten war standhaft, einfach großartig. Ob er das in der heutigen Medienwelt auch noch sein könnte? Ich bin mir nicht sicher.

Kürten war Ihr Mentor, er hat sie zum Komentator gemacht und zu Ihnen gehalten, obwohl die Kritiken nach den ersten großen Spielen vernichtend waren.

Das stimmt. Er hat das einfach durchgezogen und mir meine Linie gelassen. Und allmählich hörte die Kritik auf, plötzlich wurde ich zum Maß aller Dinge — Deutschlands bester Fußball-Kommentator hieß es immer öfter, was ich nicht beklagen werde. Es war eine gewisse Überhöhung da, aber wenn ich gesagt habe: Mal langsam, Leute — ich kommentiere doch nur Bundesligaspiele, dann wollte das keiner hören.

Bei ZDF und RTL waren Sie auf der großen Bühne, erreichten zwanzig Millionen Menschen oder mehr. Warum sind Sie dem Bezahl-Fernsehen in die Arme gesunken?

Mal abgesehen davon, dass es lukrativ war: Es war ein Traumjob. 1999 am Tag nach dem berühmten Finale der Bayern gegen Manchester stand ich in Barcelona und hatte — nichts. RTL hatte die Rechte verloren, ich war ein reiner Fußballkommentator ohne Job. Dann kam das Angebot von Premiere — die hatten alle Rechte, ich konnte das tun, was ich am liebsten tue und am besten kann. Das war mein Ding.

Jetzt nicht mehr?

Doch, und es doch ein wunderbares Indiz für die gewaltige Kraft des Fußballs, dass ich am letzten Samstag nach weit über 1500 Live-Spielen bei Mönchenglach gegen Leverkusen noch mal so richtig Spaß am Fußball hatte. Aber es ist doch auch klar, dass sich im Lauf der Jahre Rituale und Routine eingeschlichen haben. Ich kenne jeden Parkplatz, ich weiß, welcher Ordner jedes Mal nach dem Durchfahrtschein fragt und manchmal habe ich mich dabei erwischt, wie ich mich selbst zitiere. Ich habe jedes wichtige Spiel kommentiert, weil es der Sender so wollte — aber ich habe das genüßlich geschehen lassen und war so gierig auf das nächste Spiel wie der Radfahrer Eddy Merckx, den man den Kannibalen nannte, weil er jedes Rennen mitnahm. Einmal lag ich am Samstag mit einer Grippe zu Hause flach und war völlig verblüfft, dass die Bundesliga auch ohne mich stattfand...

Sind Sie mit allen im Reinen, mit denen Sie sich gezofft haben? Rudi Völler nannte Sie einen Klugscheißer, Jürgen Klopp behauptete, dass sie über nichts lachen können und Louis van Gaal meinte, Sie hätten immer nur was zu meckern...

Ich bin mit allen im Reinen, ich habe keine Leichen im Keller. Eigentlich muss ich mich bei niemandem entschuldigen — einmal habe ich es versucht, aber es war gar nicht nötig: Bei der WM 2006 hatte ich Arne Friedrich mehr oder weniger als größte Fehlbesetzung im deutschen Team bezeichnet, doch er wurde von Spiel zu Spiel besser und spielte ein überragendes Turnier. Irgendwann danach habe ich ihn getroffen und mich entschuldigt — aber der wusste gar nicht, was ich von ihm wollte, weil er das alles gar nicht mitbekommen hatte.

Wie geht´s jetzt weiter mit Marcel Reif und dem Fußball? Neulich haben Sie gesagt, Sie hätten alles erreicht, was ein Mann erreichen muss: Baum gepflanzt, Haus gebaut, Sohn gezeugt, WM-Finale kommentiert. Und nun?

Das Bewusstsein, gerade mal keinen Plan zu haben und auch keinen haben zu müssen, gefällt mir richtig gut. Ich werde nicht zu Hause rumsitzen, aber ich werde auch nicht jeden Samstag in einem Bundesliga-Stadion sitzen. Sicher ist, dass ich ein Buch schreibe. Für alles andere bin ich offen.

Aber erst mal geht´s mit Wehmut nach Mailand zum Champions League-Finale.

Meine Familie hätte das gern. Die kommen alle mit nach Mailand, die wollen mich zum Weinen bringen, die wollen die große sentimentale Schlussnummer, aber ich glaube nicht, dass das gelingt. Und wenn mir dann doch die Tränen kommen, dann gehe ich mit ihnen auf dem Mailänder Friedhof durch die Reihen und zeige die Inschriften auf den Steinen: Ist unersetzlich. Ein Verlust, der nicht zu schließen ist. So einen gibt es nicht wieder.