Nationalmannschaft: Der Weckruf zur rechten Zeit
Deutschland quält sich zu einem 1:0 gegen Chile und wird mit gellenden Pfiffen der Fans nach dem Spiel verabschiedet.
Stuttgart. Als Mario Götze den Ball in der 16. Minute mit seinem feinen Linken ins Netz streichelte, hatte Chile schon zwei Großchancen vergeben, hatte Manuel Neuer einen Ball auf die Latte bekommen, hatte Kapitän Philipp Lahm schon einen Kopfball von Arturo Vidal von der Linie gekratzt.
Vor allem aber hatte Bundestrainer Joachim Löw schon etliche Minuten wild gestikulierend in seiner Trainer-Zone verbracht. Löw hatte seine Spieler gewarnt.
Vor Nachlässigkeiten, davor, nicht 100 Prozent zu geben, und auch vor dem gestrigen Testspielgegner Chile. Und nach einer Viertelstunde war trotz der 1:0-Führung klar, dass der Bundestrainer nicht grundlos einen anderen Ton angeschlagen hatte.
Der letzte WM-Test gegen vor allem in der Offensive sehr quirlige Chilenen war der angekündigte Härtetest. Hätte die DFB-Elf zur Pause 1:2 zurückgelegen, niemand hätte sich beschweren können. Arturo Vidal, Alexis Sanchez, Mauricio Isla, Eduardo Vargas und Charles Aranguiz hätten alle ein Tor erzielen können, wenn nicht müssen. Nach dem Schlusspfiff mussten sich die DFB-Stars gellende Pfiffe gefallen lassen.
Nur in der Situation vor dem Götze-Tor deutete die deutsche Mannschaft so etwas wie Dominanz an. Da lief der Ball minutenlang durch die eigenen Reihen, bis sich die Lücke auftat und Özil den Bayern-Angreifer sehenswert freispielte. Götze hatte auch die Chance zum 2:0 (34.), zielte aber vorbei.
Das wäre auch des Guten zu viel gewesen. Dann wäre aus dem ernsthaften Test wieder nur ein Gute-Laune-Abend geworden. So zeigte Chile auf, dass die deutsche Elf nach wie vor ihre Probleme auf den Außenpositionen in der Defensive hat. Man müsste Philipp Lahm klonen können.
War er doch der Einzige, der die Pirouetten von Sanchez verhindern konnte, wenn der Star vom FC Barcelona es durch die Mitte versuchte. Lahm als Sechser mit Bastian Schweinsteiger und Mario Götze im Bayern-Mittelfeld, das funktionierte.
In der Halbzeit brachte Löw André Schürrle für den indisponierten Miroslav Klose. Doch zunächst spielte wieder nur Chile nach vorne, stand sich aber vor dem Tor selbst im Weg. Vargas traf nach gut einer Stunde und toller Vorarbeit von Sanchez nur die Latte. Die zweite Halbzeit gehörte den Chilenen.
Neuer musste gegen Vidal Kopf und Kragen riskieren (69.) und rettete auch noch gegen Sanchez (70.). Der Ausgleich war längst überfällig. Nur fiel er einfach nicht. Weltmeister Franz Beckenbauer hatte in seiner nonchalant-weisen Art, sich und anderen die Welt zu erklären, vor dem Spiel gesagt: „Ich weiß nicht, ob Löws Warnung nötig war. Aber schaden tut’s nichts.“ Stimmt. Dieser Härtetest drei Monate vor der WM war eher ein Weckruf. Noch zur rechten Zeit.