Profifußball „Ohne Fans ist Fußball nichts wert“

MANNHEIM · Interview Fan-Forscher Harald Lange spricht über die Folgen der Corona-Krise und warnt vor einer Abwendung der Anhänger.

Fan-Forscher Harald Lange spricht im Interview über mögliche Konsequenzen aus der Corona-Krise.

Foto: wz/nn

Die Einschaltquoten sinken, das Interesse nimmt ab: Die Realität der Geisterspiele stellt den Profifußball vor neue Herausforderungen. Fan-Forscher Harald Lange spricht im Interview über mögliche Konsequenzen aus der Corona-Krise.

Herr Lange, die Fußball-Bundesliga geht davon aus, bis mindestens Ostern ohne Zuschauer in den Stadien weiterspielen zu müssen. Ihre Prognose, welche Konsequenzen die Corona-Krise für den Fußball haben dürfte, klingt düster.

Harald Lange: Düster würde ich nicht sagen. Aber wir beobachten seit Beginn der Corona-Krise einen Prozess, den man mit Abwendung bezeichnen kann. Eine Abwendung vom Profifußball, und zwar aus zwei Gründen..

Welche sind das?

Lange: Zum einen sind die Zuschauer aus den Stadien ausgeschlossen, zum anderen hat die Unzufriedenheit, die wir in der organisierten Fanszene seit Jahren beobachten, nun die Mitte der Gesellschaft erreicht. Ein Beispiel: Im ZDF-Politbarometer ist die Stimmung merklich gegen den Fußball gekippt. Mitte Mai waren nur noch ein Drittel der Befragten dafür, dass Geisterspiele stattfinden. Das werte ich als Indiz, dass eine sehr gravierende Abwendung stattgefunden hat, die auch Konsequenzen auf das zukünftige Bindungsverhalten dieser Menschen haben wird. Und es wird eine enorme Herausforderung, dagegen anzugehen.

Ist Corona vielleicht nur der Brandbeschleuniger für Missstände im Profifußball?

Lange: Ja, der Ur-Konflikt ist der Kampf zwischen Kommerz und Fan-Interessen. Die aktiven Fanszenen stehen für einen Fußball, der demokratisch verfasst ist, den Fans Mitspracherechte gibt und deutlich macht, dass der Fußball nicht nur einigen wenigen gehört, die mit ihm Geld verdienen wollen. In dieser Sichtweise ist der Fußball eine gesellschaftliche, kulturelle Errungenschaft, an der alle teilhaben können. Innerhalb dieses Konflikts gibt es viele Facetten, wie den Streit um Pyrotechnik, die Diskussionen um Montagsspiele in der Bundesliga und die „50+1“-Regel oder die Debatte um die Aufarbeitung des „Sommermärchen“-Skandals. Es ist eine Kluft entstanden zwischen „denen da oben“ und „uns da unten“ an der Fan-Basis. Das erzeugt Unmut.

„Mittlerweile deprimiert mich die Atmosphäre von Monat zu Monat mehr“, hat Dortmunds Vorstandchef Hans-Joachim Watzke gesagt. Erkennen die Clubs jetzt, wie elementar wichtig die Fans für das Spiel sind?

Lange: Wenn man das liest, klingt das authentisch und ist eine sehr interessante Position. Dann wäre es aber auch allerhöchste Zeit, auf die Fans zuzugehen und sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Das könnte, wenn man es denn macht, ein Gewinn dieser Krise sein. Die Erkenntnis: Ohne Fans ist Fußball nichts wert.

Warum sehen Sie das so?

Lange: Nur durch die Bedeutung, die die Fans in dieses System hineinpumpen, ist es so wertvoll, auch wirtschaftlich gesehen. Wenn es keinen interessieren würde, schaut es niemand mehr im Fernsehen an und spricht auch niemand in der Straßenbahn mehr darüber. Ein Stück weit haben wir die Situation schon jetzt. Mein Eindruck ist, dass die Kommunikation über Fußball geringer geworden ist. Das ist aber eigentlich die Währung, die den Wert des Fußballs ausmacht. In Zeiten des Booms konnte man den Fanprotest als Folklore abtun, aber jetzt ist es erstmals eine Option, dass die Fanbasis tatsächlich wegbricht.

Die Sehnsucht der Menschen nach dem gemeinschaftsstiftenden Erlebnis Stadionbesuch bleibt doch bestehen. Kann es nicht auch den gegenteiligen „Jetzt-erst-recht“-Effekt geben und die ausgehungerten Fans rennen den Vereinen wieder die Bude ein?

Lange: Das ist ein Szenario, klar. Und es gibt viele Spuren, die dafür sprechen. Aber: Es gibt auch genau die gegenteilige Ansicht. Aus wissenschaftlicher Sicht hilft es, eine vergleichbare Situation aus der Vergangenheit heranzuziehen, um dieses Szenario zu bewerten. Mein Beispiel ist da der „Fanclub Nationalmannschaft“ des DFB.

Inwiefern?

Lange: Die Sehnsucht und Leidenschaft, die wir im Fußball haben, kann nicht von heute auf morgen verpuffen. Aber das Ausmaß und die Tiefe dieser Zuneigung können sich verlieren: Die Bindung wird oberflächlicher. Wie in einer Liebe, die zunächst allmählich und schließlich nur noch durch Routinen geprägt ist. Bei der Nationalmannschaft kam man auf die Idee, dass dieses geniale Produkt so vermarktet werden kann: Man muss zahlendes Mitglied in diesem Fanclub werden, in dem das Fansein von A bis Z durchdekliniert und durch den DFB kontrolliert ist.

Was auch lange gut funktioniert hat.

Lange: Das war in der Phase von 2014 bis 2018, als die Nationalelf erfolgreich war, ein Goldesel, den man permanent melken konnte. Dieses Konzept hat so genannte Eventfans angezogen und viele angestammte Fußballfans verprellt. Diese Fan-Basis ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen, nachdem die Mannschaft in der Vorrunde der WM 2018 gescheitert ist. Das Fatale: In den zwei Jahren seitdem ist es nicht gelungen, diese Lücke zu füllen.

Das kann man nicht eins zu eins auf die Bundesliga übertragen.

Lange: Nein, aber man kann aus diesem Modell einiges herausziehen. Man kann sagen: Wenn wir jetzt nicht aufpassen, gehen wir den Weg der Nationalmannschaft oder wir korrigieren und wir versuchen uns auf Dinge zu konzentrieren, die Traditionsclubs wie Eintracht Frankfurt, Union Berlin oder der FC St. Pauli gut machen. Vereine, die seit jeher mehr auf ihre Fan-Basis achten.

Und Sie glauben, dass diese Clubs besser durch die Krise kommen könnten?

Lange: Das glaube ich. Deren Fans bleiben, so meine These, eher gebunden als bei Clubs, die nicht so viel in die Fan-Arbeit investieren. Schalke ist auch ein gutes Beispiel. Die haben eine leidenschaftliche, historisch gewachsene Fan-Basis, die so viel mitgemacht hat in den vergangenen 50 Jahren und so lange von der Hoffnung lebt, irgendwann einmal deutscher Meister zu werden. Jetzt stehen sie am Abgrund. Was Schalke hat, und wo mir als Fan-Forscher wirklich fast das Herz aufgeht, ist diese Fan-Kultur. Darum kann man den Verein nur beneiden. Und das ist auch das, was am Ende jeder wirtschaftlichen Krise sichtbar übrigbleibt. Selbst beim Abstieg werden die Fans dabei bleiben.

Wo Sie das Beispiel Schalke nennen. Trifft es die ganz besonders hart, weil es im Abstiegskampf durch die Geisterspiele eben keinen emotionalen Verstärker mehr gibt?

Lange: Ja, das trifft den Verein in doppelter Hinsicht. Es ist in empirischen Studien nachgewiesen worden, dass im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 der Heimvorteil verloren gegangen ist. Das ist für Schalke doppelt schwierig, weil sie jetzt einen Spielstil pflegen müssen, der mehr über den Kampf kommt.

Sehen Sie in der Wirkung Unterschiede zu anderen Sportarten, in denen die Beziehung des harten Kerns der Anhänger zu ihrem Club ähnlich eng ist – wie im Handball oder Eishockey?

Lange: Ich denke schon. Natürlich führt es auch in diesen Sportarten ein Stück weit zur Entwöhnung, zur Entfremdung, vielleicht auch zur Ent-Emotionalisierung, wenn keine Fans mehr in die Arenen dürfen. Das wird aber nicht von Dauer sein, weil die Grundkonstanten der Identifikation unverändert bleiben. Wenn der Italiener an der Ecke schließen muss, mein Eishockey-Club nicht spielt und ich in Kurzarbeit geschickt werde, denkt man: Das ist zwar alles Mist, aber wir sitzen alle im gleichen Boot. Und das solidarisiert. Da fühlt man als Fan mit und ist nachher wieder genauso gebunden, weil kein Glaubwürdigkeitsproblem besteht – im Gegensatz zum Profifußball.