Pfiffe verstören Löws „matte“ WM-Kandidaten

Stuttgart (dpa) - Als Gewinner konnte sich beim Sieger nach dem letzten Personal-Check vor der WM-Nominierung niemand fühlen - auch Joachim Löw nicht.

Pfiffe verstören Löws „matte“ WM-Kandidaten
Foto: dpa

Das laute Pfeifkonzert der Zuschauer nach dem schmeichelhaften 1:0 gegen den unbequemen und forschen WM-Teilnehmer Chile irritierte die deutschen WM-Kandidaten dennoch extrem. Seit Jahren hat kein Sieg der deutschen Fußball-Nationalelf eine ähnliche Reaktion der schwarz-rot-goldenen Fans ausgelöst.

„Das ist eine Frechheit, das geht gar nicht. Man kann nicht immer glänzen“, erregte sich Bayern-Profi Jérome Boateng. „Die Hauptsache in diesem Sport ist zu gewinnen. Mental ist das gut“, meinte Abwehrmann Per Mertesacker. Die 54 449 Zuschauer in der Stuttgarter Arena beschlich in den schwachen 90 Minuten des Löw-Teams das Gefühl, dass ihre Lieblinge auf dem Weg zum angestrebten Titelgewinn im Sommer in Brasilien derzeit nicht nur dem Plan hinterherhinken, sondern das gesamte WM-Gebilde auf einem wackligen Fundament steht.

„Man hat gesehen, dass wir in der Lage sein müssen, uns zu verbessern. Die Spieler, die das betrifft, sind informiert“, bemerkte Bundestrainer Löw, der an der Seitenlinie tobte wie selten zuvor bei einem Testspiel und immer wieder wild gestikuliert hatte. Lösungen gegen den mutigen und unkonventionell spielenden Weltranglisten-14. aus Südamerika fand auch der Chef in der Coaching-Zone nicht.

„Wir waren nicht in der Lage, Dominanz auszustrahlen“, resümierte Löw, was nach den positiven Eindrücken der jüngsten Länderspiele in Italien (1:1) und England (1:0) besonders überraschte. Nicht Mesut Özil, Toni Kroos und Co. präsentierten ein ideenreiches und druckvolles Offensivspiel, sondern Chile. Und die hohe eigene Fehlerquote stürzte die Defensive immer wieder in höchste Gefahr.

„Es gab viele Unstimmigkeiten. Es gibt Verbesserungspotenzial“, betonte England-Legionär Mertesacker drei Monate vor dem ersten Ernstfall in Brasilien gegen Portugal, das am Mittwoch angeführt vom zweifachen Torschützen Cristiano Ronaldo 5:1 gegen Kamerun gewann. „Wir wirkten in der zweiten Halbzeit matt und müde“, konstatierte Teammanager Oliver Bierhoff sogar. Titelreife sieht anders aus.

Löw sah seinen verbalen WM-Weckruf beim „glücklichen Sieg“ bestätigt. Die Langzeitausfälle (Khedira, Gündogan, Sven Bender) fehlender Rhythmus und mangelnde Form (Hummels, Reus, Draxler, Höwedes, Gomez, Kruse, Adler) sowie kurzfristige Ausfälle (Müller, Westermann, Lars Bender) können die spielerische Armut gegen Chile nur bedingt entschuldigen. Allein Torschütze Götze (16. Minute) erinnerte mit seiner Spielweise an die „neue deutsche Welle“, die unter Löw so oft begeistern konnte. Die Neulinge spielten keine Rolle, nur der Freiburger Matthias Ginter kam kurz vor Schluss zu seinem Debüt.

Löw bekam aufgezeigt, wie es in Brasilien nicht funktionieren kann. Özils Versetzung auf die rechte Seite und später sogar in die Angriffsspitze nimmt dem 25-Jährigen einen Großteil seines Zaubers, zumal der Wahl-Engländer im Formtief steckt. Bei Oldie Miroslav Klose, erneut von einer Verletzung gehandicapt, setzt Löw auf das Prinzip Hoffnung. Derzeit ist der 35 Jahre alte Torjäger weder spritzig noch torgefährlich. Bei Bastian Schweinsteiger muss der Bundestrainer darauf setzen, dass der Vizekapitän von Bayern-Coach Pep Guardiola mehr und mehr Einsatzzeiten bekommt.

Beide Außenverteidiger-Positionen sind weiter Großbaustellen. Rechts enttäuschte Kevin Großkreutz als Option zwar nicht, drängte sich aber beim Comeback nicht zwingend auf. Links sind die Probleme mit der Sprunggelenks-Verletzung von Marcell Jansen (Außenbandriss) sogar noch größer geworden. Ob Kapitän Philipp Lahm auch in der Nationalelf als „Sechser“ im Mittelfeld am wertvollsten ist, vermag selbst Löw nicht zu sagen. Gegen Chile versuchte er, alle Optionen in eine Elf zu zwängen (Lahm, Schweinsteiger, Kroos, Özil, Götze, Klose) - offensichtlich auch nicht die Optimallösung.

Grund zur Panik besteht noch nicht. Vor anderen Turnieren hatte es im Frühjahr schlimmere Probeläufe gegeben. So setzte es vor der Heim-WM 2006 ein 1:4 gegen Italien, das dem damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann fast den Job gekostet hätte. 2010 war das Löw-Team in München beim 0:1 gegen Argentinien chancenlos geblieben. Beide Male wurde Deutschland danach WM-Dritter. Die deutschen Fußballer können anscheinend nur unter Wettbewerbsdruck auf Weltklasse hochschalten.

„Es ist immer ganz gut, wenn man sieht, dass es nicht nur in Deutschland gute Fußballer gibt“, resümierte Löw. „Dass wir noch Arbeit vor uns haben bis zur WM, ist doch klar“, ergänzte Kapitän Lahm gelassen. Das Schlusswort sprach Abwehrchef Mertesacker: „Es war eine gute Lehrstunde. Jeder muss sich in eine Topverfassung bringen.“