WM-Analyse in München: Die Suche nach Zusammenhalt

Bundestrainer Joachim Löw und Manager Oliver Bierhoff stellen heute in München endlich die mit Spannung erwartete WM-Analyse vor.

WM-Analyse in München: Die Suche nach Zusammenhalt
Foto: Boris Roessler

Frankfurt/München. Der Pressekonferenzraum der Münchner Arena ist vielleicht genau der richtige Ort: Wenn Joachim Löw am Mittwoch punktgenau zwölf Uhr seine Erkenntnisse und Ergebnisse der WM-Analyse vorstellt, wäre ein Veranstaltungsraum eine schicken Luxushotels gar nicht so passend gewesen. Nach der krachend gescheiterten Mission Titelverteidigung wird der Neuanfang ja auch im Münchner Norden ausgerufen, wenn die deutsche Nationalmannschaft gleich zum Auftakt der Nations League gegen Weltmeister Frankreich antritt (6. September). Die Kadernominierung ist allerdings für den Bundestrainer allenfalls ein Teilaspekt. Vor dem Ausblick muss der 58-Jährige erklären, warum im Rückblick so viel schieflaufen konnte. Am Freitag hat das DFB-Präsidium die Aufarbeitung gehört. Verbandschef Reinhard Grindel fand den Vortrag „sehr überzeugend“.

Abzuwarten ist, ob die Öffentlichkeit nach den Ausführungen von Löw und Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff zu einem ähnlichen Urteil gelangt. Zeit genug hatten die beiden: Beim von Bund Deutscher Fußballlehrer (BDFL) ausgerichteten Trainerkongress Ende Juli hatten DFB-Experten die Analyse der eigenen Mannschaft extra ausgespart. Die Probleme zwei Monate lang unkommentiert auszusitzen, hat dazu geführt, dass viele Themen von außen vorgegeben werden. Wie die angebliche Spaltung im Team zwischen Spielern mit und ohne Migrationshintergrund - zugespitzt in der Formulierung „Kanaken“ gegen „Kartoffeln“.

Neben Lukas Podolski („Deutschland ist ein Multi-Kulti-Land und wie auf der Straße werden auch ein der Nationalmannschaft ein paar lockere Sprüche untereinander gemacht“) hat auch Ilkay Gündogan widersprochen, dass derlei Wording etwas mit Rassismus zu tun gehabt hätte. Er würde gerne für die DFB-Auswahl weiterspielen - die Nominierung des Mittelfeldspielers mit türkischen Wurzeln wäre ein wichtiges Zeichen für den Zusammenhalt.

Bei der WM war die Mannschaft gewiss keine Mannschaft. Löw muss sich fragen: Reichen wechselnde Sitzordnungen beim Essen und gemeinsame Mannschaftsabende, um die Grüppchenbildung zwischen Jung und Alt, zwischen der Weltmeister-Fraktion und den Confed-Cup-Siegern, aufzuheben? Der Bundestrainer sollte nicht nur analysieren, sondern auch reflektieren, was er als Verantwortlicher für den Teamgeist tun kann.

Vielleicht ist der kommende Gegner sogar doppeltes Vorbild: Löw-Kollege Didier Deschamps, der nicht umsonst den Spitznamen „General“ trägt, hatte bei der Équipe Tricolore unabhängig vom sportlichen Wert jeden Profi Zuhause gelassen, der die Kaderhygiene gefährdet hätte. Am Beispiel von Karim Benzema statuierte der Sélectionneur sogar ein Exempel. Eine Özil-Erdogan-Affäre in dem Ausmaß hätte Deschamps deshalb nicht geduldet, weil er nullkommanull Unruhe wollte. Der Erfolg gab seinen strengen Auswahlprinzipien letztlich Recht. Auch auf dem Platz gaben die Franzosen ein Vorbild für Geschlossenheit, weil sich niemand für die Defensivarbeit zu schade war.

Weltmeisterkapitän Philipp Lahm hat auch für die deutsche Nationalelf einen strafferen Führungsstil empfohlen. Für den bei solchen Forderungen nur bedingt empfänglichen Löw wird das Pflichtspiel gegen Frankreich und der Test gegen Peru (9. September) auch persönlich zum Lackmustest. Sollte seine Auswahl keinen Aufbruch ausstrahlen (und die Stimmung in den Stadien kippen), dann ist auch das bis 2022 verlängerte Arbeitspapier bald nichts mehr wert. Nach der Rückreise aus Russland hatte Löw selbst „tiefgreifende Maßnahmen, klare Veränderungen“ angekündigt, aber mit dem eisernen Besen wird eher nicht durchgefegt.

Im Gegenteil: Im Team hinter dem Team soll es zur Verkleinerung kommen. Prominentes Opfer könnte Assistent Thomas Schneider werden, der offenbar wenig Zugang fand. Dafür dürfte Marcus Sorg mehr Befugnisse erhalten. Auch der Abschied von Chefscout Urs Siegenthaler wäre keine Überraschung. Aber: Die meisten Gesichter werden beim Treffpunkt am kommenden Montag im Hilton München Park die altbekannten sein.

Eine radikale Reform kündigt sich auch im Aufgebot (noch) nicht an: Nach den Rücktritten von Mesut Özil und Mario Gomez ist damit zu rechnen, dass Löw auf Sami Khedira, vielleicht vorerst auch auf Jerome Boateng verzichtet, die beide bei der WM (körperlich) nicht auf der Höhe wirkten. Niklas Süle, Leon Goretzka oder Julian Brandt sollen dafür mehr Verantwortung erhalten.

Dazu steht die Rückkehr von Leroy Sané an, dessen Ausbootung vor der Russland-Reise nicht jeder verstand, bringt der Unterschiedsspieler aus der Premier League doch mit, was vielen Akteuren fehlt: Tempo und Überraschungsmoment. Ferner wird der oberste Fußballlehrer des Landes abwägen, wann er auf Spieler wie Kai Havertz, Serge Gnabry, Mahmoud Dahoud, Jonathan Tah oder Philipp Max setzt. In diesen Jahrgängen schlummert noch Potential, dahinter wird das Angebot dünner. Eingedenk des Mangels am Talenten in den aktuellen Auswahlteams von der U19 abwärts sprechen Verbandsexperten sogar davon, dass die wahre Talsohle vielleicht noch gar nicht erreicht ist.