2002, 2006, 2010 — und schon wieder WM-Halbfinale!
Jede der erfolgreichen deutschen Mannschaften seit 2002 hat ihre ganz eigene Geschichte.
Santo Andre. Fußball, hat der englische Nationalspieler Gary Lineker einmal entnervt definiert, ist ein einfaches Spiel, bei dem 22 Fußballer dem Ball hinterher jagen — und am Ende immer Deutschland gewinnt. Richtiger ist: Eine Fußball-WM ist ein Turnier, bei dem am Ende immer Deutschland im Halbfinale steht. Zum vierten Mal hintereinander hat Deutschland die Runde der letzten vier WM-Teams erreicht. Jedes Team auf seine Art. Vier Mannschaften, vier Typen.
Das deutsche WM-Aufgebot bestand aus jenen Spielern, die übrig blieben, nachdem das Verletzungspech die Auswahl dezimiert hatte. Rudi Völlers Resterampe schlug sich wacker. Michael Ballack war der Chef, Oliver Kahn der Titan. Der Rest Arbeit. Deutschland kämpfte sich in der K.o.-Runde von einem 1:0 zum nächsten. Paraguay, USA, Südkorea - alles 0:1-Opfer. Ohne Schönheitspreis. Die Schönspieler waren lange zuhause, als Deutschland im Finale auf Brasilien traf. Ohne den gesperrten Ballack zwar, dafür erstaunlich ansehnlich. Tragischerweise fiel der bis dahin überragende Kahn aus seiner Titanen-Rolle.
Ballack hieß jetzt Capitano. Die Mannschaft war eine wilde Mischung, wie sie nur Jürgen Klinsmann zusammenstellen konnte. Der Titan saß auf der Ersatzbank neben einem gewissen David Odonkor. Und die Republik tobte: Deutschland schien nach einem desaströsen Testspiel gegen Italien vor der WM gewillt, das Turnier abzublasen, die Grenzen zu schließen und Klinsmann auf Schadensersatz zu verklagen. Dann allerdings hätte der bis heute schönste deutsche Fußball-Sommer nicht stattgefunden. Im Halbfinale warteten die Italiener, die am liebsten dann über sich hinauswachsen, wenn es gegen Deutschland geht. Am Ende gewannen sie 2:0 nach Verlängerung und am Ende den Titel.
Der Capitano fehlte, war kurz vor der WM von Kevin-Prince Boateng zusammengetreten worden. Was sich damals noch keiner vorstellen konnte — am wenigsten Ballack selbst: Es ging ohne ihn weiter. In der Nationalelf brach eine neue Zeit an, mit neuen Kräftverhältnissen. Joachim Löw hielt die Hierarchien flach und den lockeren Geist seines Vorgängers wach. Ballacks Rolle übernahmen Philipp Lahm als Kapitän und der von Löw zum „aggressiv leader“ ernannte Bastian Schweinsteiger. Die Mannschaft stand für Deutschlands multikulturelle Gegenwart. Zum WM-Aufgebot gehörten Spieler mit spanischen (Gomez), nigerianischen (Aogo), ghanaischen (Boateng), tunesischen (Khedira), serbischen (Marin), türkischen (Özil, Tasci) und polnischen (Trochowski, Podolski, Klose) Wurzeln. Daneben prägte ein bayerisches Gewächs die Elf: Thomas Müller, mit 20 Jahren, fünf Treffern und drei Vorlagen WM-Torschützenkönig. Im Halbfinale allerdings waren die spanischen Wurzeln stärker. Iniesta & Co. standen in der Blüte ihrer Jahre, gewannen 1:0 und holten sich danach den Titel. Deutschland hatte zum zweiten Mal gegen den späteren Weltmeister verloren, mit dem anschließen 3:2-Sieg gegen Uruguay mit Spiel um Platz drei allerings auch zum zweiten Mal das kleine Finale gewonnen.
Thomas Müller kann noch seinen Titel als WM-Torschützenkönig von 2010 verteidigen, und Miroslav Klose könnte mit einem einzigen weiteren Treffer den Brasilianer Ronaldo als WM-Rekord-Torschützen ablösen. Ansonsten ist es nicht das Spektakuläre, das Löws Truppe in Brasilien auszeichnet — sieht man einmal von Manuel Neuers Feldspiel ab. Was die Mannschaft neben den wieder erstarkten deutschen Fußball-Tugenden — Einsatz, Laufbereitschaft, Willenskraft — auszeichnet, ist ihr Pass-Spiel. Den Ball wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen von einem zum nächsten wandern zu lassen — darin sind die Deutschen schon vor dem Halbfinale Weltmeister.