Adiós WM: Das Ende der spanischen Fußball-Weltherrschaft
Rio de Janeiro (dpa) - Spanien steht nach dem brutalen Ende seiner glorreichen Fußball-Weltherrschaft unter Schock: Das klägliche Scheitern des Titelverteidigers in der WM-Vorrunde kam völlig unerwartet.
Aber noch mehr schmerzt, dass sich die „goldene Generation“ bei dieser Copa do Mundo in keinster Weise weltmeister-würdig präsentiert hat. „The End“ titelte das Sportblatt „Marca“ treffend. Die Fans waren verstört, die Presse rechnete mit dem Team nach dem entscheidenden 0:2 (0:2) gegen Chile im legendären Maracanã in Rio de Janeiro schonungslos ab. Trainer Vicente del Bosque deutete seinen Ausstieg an.
Eine Zäsur ist unausweichlich. Auch Spieler wie Kapitän und Keeper Iker Casillas, der geniale Spielgestalter Xavi oder Xabi Alonso, die die Dominanz jahrelang entscheidend mitprägten, werden ihre Karriere in der „selección“ wohl beenden. „Es ist ein trauriger Tag für uns“, erklärte del Bosque nach der Demütigung. „Wir müssen überlegen, was das Beste für den spanischen Fußball ist. Es ist Zeit, über die Zukunft nachzudenken. Das gilt auch für mich.“
Symbolhafter hätte das Ende der einmaligen Regentschaft mit den zwei EM-Erfolgen 2008 und 2012 und dem WM-Titel 2010 als Krönung nicht sein können: An jenem denkwürdigen Mittwoch unterzeichnete auch Spaniens König Juan Carlos seine Abdankungspapiere.
Mit ihrem schwindelerregenden „Tiki-Taka“ hatten Spaniens Fußball-Könige bei der EM 2008 erstmals für Furore gesorgt. Sechs Jahre lang beherrschten die Ballartisten mit ihrem glamourösen Kurzpasszauber die internationale Bühne. Die Spitzenposition in der FIFA-Weltrangliste war ungefährdet. Mit dem Champions-League-Triumph von Real Madrid im Stadtderby gegen Atlético und dem Gewinn der Europa League durch den FC Sevilla schien die Vorherrschaft im WM-Jahr sogar noch zementiert. In Brasilien kam alles anders.
Die erzwungene Abdankung der spanischen Fußball-Helden muss jedoch keinesfalls auch das Ende des legendären „Tiki-Taka“ bedeuten. Ausschlaggebend war vielmehr, dass der Titelverteidiger in keiner Phase des Turniers dieses System perfekt zelebrieren konnte. Nicht nur, weil die Niederlande bei ihrem 5:1 und nun Chile das probate Gegenmittel dafür fanden. Sondern in erster Linie, weil Protagonisten wie Xavi, Andrés Iniesta oder David Silva in Brasilien weit von ihrer Normalform entfernt waren - was auch für ihre Kollegen gilt. Mögliche Gründe: Mental und körperlich ausgelaugt nach einer strapaziösen Saison mit ihren Top-Clubs - und vielleicht angesichts der einmaligen Erfolge auch nicht mehr ganz so hungrig und bissig.
Aber so wie in Felipe VI. bereits der neue Monarch inthronisiert ist, stehen auch bei der „selección“ die Nachfolger bereit. Bayern Münchens verletzt fehlender Thiago, Torhüter David de Gea, Juan Mata (beide Manchester United), Koke (Atlético) oder Isco (Rea) haben die Qualitäten, die nächste „goldene Generation“ zu bilden und das von del Bosque weiterentwickelte „Tiki-Taka“ zu revitalisieren.
Erst müssen aber der WM-Schock überwunden und ein stilvolles Gruppenfinale gegen Australien absolviert werden. Denn nach den Niederlanden führten auch die Chilenen den vermeintlichen Titelanwärter regelrecht vor. In puncto Einsatzwillen, Spielfreude und taktischer Raffinesse waren die Südamerikaner dem Champion meilenweit voraus. „Den Spielern des spanischen Teams zitterten sogar die Schnürsenkel“, kommentierte „El País“ süffisant. „Spanien war die Titanic.“ Und „Marca“ urteilte: „Zerschmettert! - Vom Himmel in die Hölle. Es war schön, aber im Leben ist alles irgendwann vorbei.“
In sozialen Netzwerken erhielten die gedemütigten Helden tausendfachen Zuspruch, mussten aber auch beißenden Spott ertragen. Statt „Tiki-Taka“ heiße es jetzt „taca-taca“ („Rollatoren“), lästerte ein User. Nach Italien vor vier Jahren in Südafrika scheiterte der nächste - insgesamt fünfte - Titelverteidiger schon in der Vorrunde. So tief gefallen wie Spanien waren aber selbst Italien (1950 und 2010) und Brasilien (1966) nicht. Nur Frankreich hatte sich 2002 bei seinem vorzeitigen K.o. ähnlich kläglich präsentiert.
„Wir waren auf dem höchsten Punkt, jetzt sind wir auf dem tiefsten“, erklärte Iniesta, gegen Chile blass bis zur Unkenntlichkeit. „Wir waren nicht in der Lage, hungrig zu bleiben und unsere Überzeugung aufrechtzuerhalten, den nächsten WM-Titel zu holen“, fasste der ebenfalls erschreckend schwache Xabi Alonso das nie für möglich gehaltene Aus noch vor dem letzten Gruppenspiel zusammen. „Unsere Einstellung war nicht dieselbe wie bei den anderen Turnieren.“
Mit seinem Fehler vor dem 0:1 durch Eduardo Vargas (20.) leitete der „Sechser“ von Real Madrid die in der Höhe fast noch schmeichelhafte Niederlage ein. Charles Aránguiz (43.) machte vor 74 101 Zuschauern im Estádio do Maracanã und 13,229 Millionen schockierten spanischen TV-Fans noch vor der Pause alles klar für die Chilenen.
„Ich hätte nie gedacht, dass wir die WM nach der ersten Runde verlassen würden“, sagte del Bosque. Der 63 Jahre alte Coach setzte in Brasilien noch einmal voll auf die von ihm zusammengestellte Generation um Xavi & Co. und schob den von vielen Experten bereits nach der EM 2012 geforderten Umbruch ein letztes Mal auf. Dass der 34 Jahre alte Xavi, jahrelang das brillante Gehirn des Dominanzfußballs beim FC Barcelona und im Nationalteam, nur wie versteinert auf der Ersatzbank saß, war nicht nur ein symbolisches Bild, sondern auch ein erstes Indiz für den anstehenden Neuaufbau.
Mit den Gegentreffern sechs und sieben übertrafen die Spanier bereits nach zwei Spielen ihre Gesamtquote ihrer siegreichen Turniere 2008, 2010 und 2012. Die wacklige Defensive um den in Brasilien ebenfalls erstaunlich kraft- und emotionslosen Sergio Ramos, jahrelang ein wichtiger Mosaikstein spanischer Erfolge, war ein Grund für das Desaster. „Die Realität ist wie sie ist: Dieses Team hatte es nicht verdient, die nächste Runde zu erreichen“, gestand Casillas.
Del Bosque, seit 2008 im Amt, wird den Neuanfang aller Voraussicht nach nicht mehr anleiten, auch wenn sein Vertrag noch bis 2016 läuft. „Solche Ergebnisse haben immer Konsequenzen. Aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen uns ein bisschen Zeit nehmen und analysieren, wie es weitergeht. Das gilt auch für meine Person“, sagte der Coach und verließ mit gesenktem Haupt den Pressesaal - „The End“.