Algerien: Herz, Hingabe und Historie

Das algerische Team steigt in den Status der WM-Helden von 1982 auf. Und feiert die Neuauflage gegen Deutschland.

Islam Slimani schoss das Tor für Algerien gegen Russland.

Foto: MAXIM SHEMETOV

Curitiba. Um die besondere Bedeutung des Moments zu erlangen, genügte es, die Reaktionen von Rais M’Bolhi mit dem Schlusspfiff einzufangen. Wie der tüchtige Tormann die Fäuste ballte, den Kopf in den Nacken legte und in den Nachthimmel von Curitiba starrte — dann kullerten Tränen über seine Wangen. Auch die Emotionen von Esseid Belkalem sagten viel über die algerische Nationalmannschaft aus.

Wie sich der stämmige Verteidiger die Kunststoffkugel krallte, unter sein Trikot spannte und feixend damit herum spazierte — als gäbe es aus der Arena da Baixada kein schöneres Erinnerungsstück. Dann schnappte sich die Truppe algerische Landesfahnen und tanzte ausgiebige Ehrenrunden.

Mit dem 1:1 gegen Russland haben die Wüstenfüchse („les fennecs“) bei ihrer vierten WM-Teilnahme erstmals die Vorrunde überstanden und bekommen für das Erreichen des Achtelfinals eine Auseinandersetzung am Montag in Porto Alegre gegen Deutschland (22 Uhr/ZDF) geschenkt; genau das, was sich die meisten aus dem Maghreb-Staat gewünscht hatten. „Großartig“, empfand das stellvertretend Mittelfeldmann Carl Medjani, „wir haben gegen die Deutschen nichts zu verlieren.“

Die Ausgangslage sei ideal, erklärte Nationaltrainer Vahid Halilhodzic. „Wir sind ein kleines, kleines Team, das gegen eine große, große Mannschaft spielen darf.“ Der weitgereiste Bosnier verriet für Kenner der afrikanischen Konföderation, deren Rangliste Algerien anführt, nichts Neues, als er betonte, sein Ensemble stehe für technisch guten Fußball. „Wir haben nicht das Niveau wie Brasilien, aber wir werden das Beste geben.“

Er mochte nur nicht versprechen, ob das gegen einen WM-Favoriten ausreiche. „Ich habe die Deutschen gegen die USA gesehen: Sie sind technisch versichert und rennen nonstop — für uns wird das kompliziert.“

Der 61-Jährige, der nach internen Streitigkeiten seinen Job nach Turnierende aufgibt, geht nicht nur als widerspenstiger Zeitgenosse, sondern auch als listiger Geselle durch. Weil er sich seit drei Jahren sehr erfolgreich um Fortschritte des algerischen Fußballs verdient gemacht hat, wusste der ehemalige Topstürmer genau, welche Motivationsspritze für die Öffentlichkeit jetzt noch zu verabreichen war.

Es galt die Erinnerungen an die WM 1982 wiederzubeleben, bei der die Nordafrikaner gegen Deutschland für eine Sensation (2:1) gesorgt hatten, um dann nach der Schande von Gijón, dem deutsch-österreichischen Nichtangriffspakt, zu scheitern. „Wir haben das nicht vergessen, nicht Gijón, nicht Deutschland“, erklärte Halilhodzic mit grimmiger Miene, als ob er damals selbst betroffen gewesen sei. „32 Jahre sind eine lange Zeit, aber jeder in Algerien weiß, was passiert ist.“

Rabah Madjer und Lakhdar Belloumi, die Torschützen damals aus dem El Molinón, können allein mit den Erzählungen ihren Lebensabend verbringen, aber ihr Status scheint vorübergehend gefährdet: Der neue Volksheld auf den Straßen von Algier heißt Islam Slimani.

Der gerne von einer spielfreudigen Dreierreihe mit Sofiane Feghouli (FC Valencia), Yacine Brahimi (FC Granada) und Abdelmoumene Djabou (Club Africain/Tunesien) in Szene gesetzte Stürmer von Sporting Lissabon köpfte nach einem Irrflug des russischen Keeper Igor Akinfeev sein drittes Turniertor und erklomm in Curitiba zum zweiten Male als „Man of the match“ das Podium. „Ein Traum wird wahr — wir empfangen sehr viel Liebe, nicht nur in unserem Land“, beteuerte der 26-Jährige mit verklärtem Blick.

Was ist das Erfolgsgeheimnis eines Kaders, in dem 16 der 23 Spieler in Frankreich geboren sind, aber so viel Herz für Algeriens Auswahl aufbringen, als hätten sie alle einen Blutaustausch hinter sich? Simple Antwort des Angreifers Slimani: „Wir folgen den Instruktionen unseres Trainers.“

Der hatte übrigens verfügt, dass Nachfragen nach Auswirkungen des Ramadan, der muslimischen Fastenzeit, weder von Spielern, Offiziellen noch ihm selbst beantwortet würden. Mit der Begründung, das sei doch kein sportliches Thema. Indes verlautete aus dem Umfeld der Delegation, einem Leistungssportler sei sehr wohl die Nahrungsaufnahme in Ausnahmefällen tagsüber erlauben — und der Ausnahmezustand gelte ja wohl.