Zwischenbilanz WM: Tempo, Tore, Titelträume

Nach der Vorrunde ist klar: Diese WM ist eine Freude und birgt Überraschungen.

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Curitiba. Es hätte wohl Legendenstatus erlangt, jenes langgezogene Areal namens „CT do Caju“ in einem Industrieviertel von Curitiba, wo der Club Atlético Paranaense sein Trainingszentrum unterhält, für das sich kein Geringerer als der Weltmeister entschieden hatte — wenn es mit der Titelverteidigung etwas geworden wäre.

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Die örtliche Tourismusbehörde vollführte nach dem Entscheid des spanischen Fußballverbandes wahre Freudentänze, die rührigen Vereinsoberen baten um Begegnungsmöglichkeiten mit den Funktionären. Und bitteschön auch mit Vicente del Bosque, dem Weltmeistertrainer. Nebenbei auch Gewinner von Europameisterschaft und Champions League.

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Was der 63-Jährige allerdings vor Turnierstart bei einem Termin erzählte, ist nichts groß Anderes gewesen, was er internationalen Medien auch erklärte. „Wir brauchen nicht zu denken, dass wir im Besitz der einzigen Wahrheit sind.“ Sprach da der Prophet? Die Vorrunde ist beendet, und das von del Bosque trainierte Ensemble hat bisher laut Statistik wieder die meisten Pässe gespielt (1703) — und war dennoch das erste, das sich nach der Heimreise durch einen Hinterausgang vom Flughafen trollte. Geschlagen und gedemütigt von der Kontertruppe der Niederlande und dem Überfallkommando aus Chile.

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Sie gehörten wie Brasilien, Deutschland oder Argentinien zu jenen Mannschaften, die die Vorrunde mit Souveränität und Gelassenheit prägten, während die Quälgeister aus Uruguay, die Raubritter aus Kolumbien, die Unerschrockenen aus Mexiko, der Nobody aus Costa Rica, die Wankelmütigen aus Nigeria, der Außenseiter aus Algerien, die Kämpfer der USA, die Begeisterungsfähigen aus Belgien, die Auferstandenen aus Frankreich, die Spielintelligenten aus der Schweiz und die Gesichtslosen aus Griechenland überraschten.

Insgesamt stellt Süd-, Nord- und Mittelamerika nun die Hälfte der Achtelfinalisten, Europa nur sechs, Afrika zwei, Asien gar keinen. Wenn es bei allen einen allgemeinen Trend in der Spielweise gibt, dann der, dass der reine Ballbesitz ausgedient hat. Unentwegt die Kunststoffkugel kunstvoll zirkulieren zu lassen, wie es beim „Tika-Taka“ vorgemacht wurde, ist nicht mehr zielführend. Das beweist auch das Datenmaterial.

Stattdessen ist eine schnellere und direkte Offensivstrategie durch dieses Turnier gezogen. 2,8 Tore fielen bislang im Schnitt und damit so viele wie bei der WM 1970 in Mexiko nicht mehr. Kein Team blieb ohne Gegentor — und keines ohne eigenen Treffer!

„Diese WM hat ein exzellentes Niveau“, meint der weitgereiste Fabio Capello. „Es ist das höchste Level und Tempo, das ich je bei einer WM gesehen haben“, versichert der 68-jährige Italiener, der mit dem nächsten WM-Ausrichter Russland zu den vielen gescheiterten Teams gehörte. Die Ursachen für die mit Abstand attraktivste Vorrunde seit Jahrzehnten — mit lediglich fünf Nullnummern in den 48 Gruppenspielen — sind vielschichtig.

Vorhergesagt hatte den hohen Spaßfaktor wegen der klimatischen Unterschiede und der gewaltigen Entfernungen im fünftgrößten Land der Erde allerdings niemand. Allein: Brasilianer, Deutsche und auch Argentinier hatten sich von Haus aus wegen ihrer Individualisten als „offensives Team“ gekennzeichnet, das unterstreichen ihre Trainer Felipe Scolari, Joachim Löw und Alejandro Sabella auch bei jeder Gelegenheit.

Beeinflusst sind viele Fußballlehrer von den jahrelangen stilprägenden Vorführungen des FC Barcelona, die animiert haben, den eigenen Ansatz zu reformieren — und den viele mittlerweile auf ihr Profil perfekt modifiziert haben.

Die größte Variable bietet dafür ein 4-2-3-1-System, das sich je nach Ausrichtung in Offensive oder Defensive ganz leicht zum 4-3-3 umwandeln lässt. Die Grenzen zerfließen. Und wenn sogar in den Niederlanden die heilige Drei-Stürmer-Doktrin geopfert wird, um stolze Spanier im ersten Gruppenspiel mit einer 5-3-2-Taktik aufs Kreuz zu legen, dann ist viel über die Entwicklung gesagt. Wusste Spaniens Trainer del Bosque etwa schon, dass die Wachablösung nahen würde? Vielleicht sollte er sich als Wahrsager versuchen.