Darf man Steuersünder Ronaldo bejubeln?

Darf uns die WM begeistern, obwohl in Russland Menschenrechte missachtet werden? Und was ist mit Özil? Ein Philosoph antwortet.

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Osnabrück. Seit der Ball in Russland rollt, steht der Sport im Vordergrund. Wer redet noch über die Steuertricks der Superstars, die Mauscheleien von Funktionären und Politikern? Ein Fall für eine Sprechstunde beim Sportphilosophen, Professor Dr. Elk Franke. Müssen wir ein schlechtes Gewissen haben, weil. . .

…wir trotz Steuerbetrug und Haftstrafe Cristiano Ronaldo für seine Fußballkünste bewundern?

Wir können Cristiano Ronaldo für seine Fußballkünste bewundern, denn er gehört zu jenen begnadeten Sportlern, die es auch in anderen Disziplinen selten gibt, die neben einem außergewöhnlichen Talent auch Selbstdisziplin besitzen. Der Perfektionist entwickelt dabei eine Aura der Distanz, zeigt sich eitel und beleidigt. Das macht es vielen schwer, neben der Leistung auch den Menschen anzuerkennen. Die Diskussion über seinen Steuerbetrug ist daher für viele eine Möglichkeit, in ihm den Raffzahn zu sehen.

In der Tat gibt es viele Gründe, die Möglichkeit der Reichen- und Erfolgreichen zu kritisieren, die glauben, sich von Bürgerpflichten befreien zu können. Bei dieser Kritik wird oft übersehen, wie leicht es im Spitzensport ist, über Personen Missstände zu kritisieren und dabei die Strukturen zu ignorieren, die diese Missstände ermöglichen. Wenn Ronaldo Unsummen verdient und eine Ablöse von 1000 Millionen im Raum steht, dann hat „der Fußball“ nicht als Handlung auf dem Rasen, sondern als System eine Dimension erreicht, die alle Maßstände, insbesondere die moralischen sprengt. Berücksichtigt man, dass diese Kritik in eine Zeit fällt, in der die Autoindustrie Politik und Bürger betrügt und die Großbanken ihren selbstverschuldeten Bankrott mit Steuergeldern kompensieren, wird deutlich, wie einseitig es ist, Menschen zu kritisieren, aber gleichzeitig die Rahmenbedingungen als gegeben hinzunehmen.

. . .wir die WM in Russland voller Begeisterung verfolgen, obwohl dort Menschenrechte missachtet werden?

Wie weit wir alle als Fußballfans auch eine Mitverantwortung für das System Fußball haben, zeigt sich nicht nur bei der langen Rücksichtnahme gegenüber den Betrügereien des „Kaisers“ bei der Einwerbung der WM 2006, sondern auch bei der WM-Vergabe an Russland und Katar. Schnell wird in solchen Situationen das praktikable Entsorgungsmodell des Systems „Sport“ erkennbar, getreu dem Slogan „Sport ist Sport“ und „Politik ist Politik“. Auch wenn diese formale Trennung kaum noch jemand anerkennt, wird sie dennoch immer dann aktualisiert, wenn sich das System Fußball aus seiner Verantwortung verabschiedet, internationale Wettkämpfe in Länder vergibt, in denen Journalisten als Staatsfeinde behandelt, hybride Kriege geführt oder die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

. . . wir nicht wissen, wie wir mit Özil und Gündogan umgehen sollen?

Sport ist mehr als das Spiel auf dem Rasen. Dies betonen andererseits jene Fans gern, wenn sie das Verhalten von Özil und Gündogan beim Treffen mit dem türkischen Präsidenten kritisieren. Was als Spieler in multinationalen Vereinen vielleicht noch toleriert werden könnte, ist für sie in der Form wie es offiziell stattgefunden hat, ein Affront gegenüber denen, die dem Leistungssport im Wettstreit der Nationen einen hohen Stellenwert zuschreiben. Dabei wird meist übersehen, dass die nationale Identifikation der Fans mit den Sportlern oft größer ist, als die der Sportler mit der Nation, für die sie im Wettbewerb stehen. Alle, die den Ausschluss von Gündogan und Özil aus der deutschen Nationalmannschaft fordern, sollten mit der gleichen Entschlossenheit die Sport-Funktionäre kritisieren, die keine Skrupel haben, mit den Despoten ihre machtpolitische Position zu sichern.

Verantwortung hat immer zwei Seiten. Wer Verantwortung bei anderen einklagt, sollte seine eigene Verantwortung als Fan nicht vergessen. Denn dass Fußball inzwischen so stattfinden kann, wie er stattfindet, haben wir mitverursacht. Weil wir glauben, Menschen kritisieren zu müssen, aber die Bedingungen unter denen diese handeln, tolerieren zu können.