Kolumne von Marcel Reif „Leute, schaut auf diese Kroaten!“
Eine WM mit guten Gastgebern, einem tollen Finale und alten Grundsätzen.
Bevor ich meine Vorfreude auf dieses Endspiel mit Ihnen teile, möchte ich ein paar Worte zum WM-Ausrichter Russland loswerden. Es war eine schöne WM, in beeindruckenden Stadien und in herzlicher Atmosphäre. Und ohne prügelnde Hooligans, die mir schon bei manchem Turnier die Freude am Fußball getrübt haben.
Die Menschen in diesem Land waren großartige Gastgeber — ich rede von den ganz normalen Menschen, denen die Fans aus aller Welt begegneten und danach durchweg von deren Herzlichkeit und Gastfreundschaft schwärmten. Die Wirkung von Zigtausenden dieser unscheinbaren Begegnungen darf man nicht geringschätzen.
Wie sagten die Nachrichtensprecher früher immer am Ende der Sendung? „...und nun zum Sport.“ So soll es sein, also: Auf die Finalpaarung zu wetten, dazu hätte es Mut gebraucht. Man kannte das Potenzial der Franzosen, durfte aber zweifeln an ihrer Stabilität. Im Vergleich dazu ist die Tatsache, dass die Kroaten noch immer nicht im Urlaub sein, ein kleines Wunder. Eigentlich sind die Deutschen noch gar nicht raus — sie sind dabei am Sonntag, in blauen Trikots. Denn so wie die Franzosen auftrumpfen, sind früher gute deutsche Nationalmannschaften bei Weltmeisterschaften aufgetreten. Sie können verteidigen, sie haben Willen, geben nie auf und steigern sich von Spiel zu Spiel — eine Turniermannschaft! Frankreich mit deutschen Tugenden… Und dann Kroatien: Lassen wir mal die Fragwürdigkeit manchen Liedguts und auch die allzu kräftigen Ausschläge auf der Skala des Nationalismus beiseite (gab es so etwas nicht auch 1954 in Bern?) beiseite. Dann sehen wir eine Mannschaft, die einen Romantiker wie mich mit vielem versöhnt, was einem der moderne Fußball in letzter Zeit so zumutet.
Was macht diese Mannschaft aus, dass sie umso viel besser ist als die Summe ihrer Einzelteile? Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass Kroatien mehr individuelle Klasse auf dem Platz hat als Deutschland. Aber wenn die Herren Löw, Bierhoff und Grindel bei ihrer Aufarbeitung etwas Zeit gewinnen wollen, dann sollten sie sich die Spiele der Kroaten anschauen — dann sehen sie viel von dem, was der deutschen Elf gefehlt hat.
Mario Mandzukic zum Beispiel. Auf den letzten Metern seiner Laufbahn, die Bayern wollten ihn nicht mehr, Atletico auch nicht, und bei Juve spielt er auch nicht immer. Er spürt die Last seiner 32 Jahre; als es im Halbfinale 1:1 steht, hat er Krämpfe.
Und dann ist er plötzlich wach und spritzig, und er gewinnt diesen Sprint und setzt den Ball mit seiner ganzen Klasse dahin, wo er hin muss, damit´s ein Tor wird. Ein Tor? Nein, das Tor. Und jetzt schauen Sie noch mal, wie die dann jubeln und sich miteinander freuen. Das hat nichts mit Geld zu tun, nichts mit der Aussicht auf Ruhm.
Nein, diese Jungs holen sich ihre Ressourcen und ihr Teamgefühl aus dem Stolz eines kleinen Landes, das sehr viel hinter sich gebracht hat und das nur überstanden hat, weil sie diesen Zusammenhalt, dieses Gemeinschaftsgefühl haben. Das leben sie jetzt aus im Sport, nicht nur im Fußball, auch im Basketball oder im Wasserball.
Ohne Ausnahmefußballer würde das aber auch nicht reichen, aber sie haben ja Modric. Der war gegen die Engländer lange gar nicht da, aber dann er hat noch mal was mobilisiert. Er ist der mannschaftsdienlichste Superstar, den ich lange gesehen habe; er hat was aus sich herausgeholt, von dem er gar nicht wusste, dass er es hat.
Als er dann da stand, ausgepumpt und mit dem hageren, eingefallenen Gesicht, als sollte er im Namen der Rose einen kleinen Mönch spielen, da war das ein Bild dieser WM, das bleibt. Es kontrastiert mit dem traurigen Bild der leeren Augen von Messi. Das ist kein Zufall. Ein Ausnahmekönner wie Messi kann manches Spiel entscheiden, aber kein ganzes Turnier allein gewinnen. Die Modrics haben übernommen; Spieler, die für die Mannschaft spielen, anstatt zu verlangen, dass die Mannschaft für sie da sein muss.
Das ist eine Erkenntnis dieser WM — gibt es andere? Vielleicht ein paar ganz einfache und altbekannte. Zum Beispiel die vom Teamgeist, der alles begrenzt oder eben alles erweitert. Oder die Bedeutung einer guten Defensive: Wenn man gut verteidigt, kann es auch der Kleine dem Großen schwer machen. Und wenn der Große schlecht verteidigt, kommt er nicht weit — die Franzosen haben das rechtzeitig begriffen.
Ja, es sind ein paar alte Grundsätze, deren Gültigkeit bei dieser WM verlängert worden sind. Überschrift: Könnte doch was dran sein an dem, was Opa immer erzählt hat. Das personifiziert sich auch in der Renaissance des Mittelstürmer, den uns ja die Taktik-Professoren schon vor ein paar Jahren ausreden wollten. Und nun? Harry Kane, Olivier Giroud, Romelu Lukaku, Mario Mandzukic — was anderes als die Neun steht diesen Jungs nicht.
Ich freue mich auf das Endspiel! Favorit gegen Außenseiter, Jung gegen Alt, Kämpfer gegen Spieler — dieses Finale hat alles, um ein großes zu werden.
Ob es dann wirklich so kommt? Ich weiß es nicht, und das ist gut so. So viel ich über Fußball schreiben mag und so viel Sie darüber lesen mögen: Seine letzten Geheimnisse lässt er sich nicht entreißen. Deshalb lieben wir ihn immer noch — der Kommerzialisierung, den Skandalen, den Auswüchsen und der Überhöhung zum Trotz.