Löw genießt die Initialzündung - Hummels-Ausfall droht
Santo André (dpa) - Am frühen Morgen nach dem Turbostart in die Fußball-Weltmeisterschaft spazierte Joachim Löw lässig im Deutschland-Trikot und mit Sonnenbrille am Strand entlang.
Nach der Rückkehr ins behagliche Campo Bahia am Atlantik fiel auch beim Bundestrainer wenigstens kurz der immense Druck ab, das erste Etappenziel hat er mit dem krachenden 4:0-Einstand gegen Portugal eindrucksvoll erreicht. „Das war für uns ein sehr guter Auftakt“, sagte Löw und verriet: „Wir haben vor dem Spiel gesagt, dass es für uns keine andere Option gibt, als zu gewinnen.“
Nach der Ankunft im Quartier war am Montagabend der Song „Happy“ von Pharell Williams erklungen. Die Hotelangestellten standen Spalier, um Triple-Torschütze Thomas Müller und seine Kollegen mit Beifall zu empfangen. Glücklich sanken die gefeierten Sieger von Salvador später in ihre WG-Betten und konnten von weiteren Großtaten in Brasilien träumen. Die letzten Minuten des 2:1-Sieges der von Jürgen Klinsmann trainierten US-Boys gegen den nächsten Gruppengegner Ghana erlebten sie zuvor noch am TV mit.
Der eigene Knallstart erinnerte viele Beobachter an die Initialzündung der letzten deutschen Weltmeister 1990 beim 4:1 in Mailand gegen Jugoslawien. Und „Bomber“ Thomas Müller ist mit seinen hitzefesten Kameraden wild entschlossen, den euphorischen Fans in der Heimat noch sechs große Fußball-Festtage bis zur finalen Krönung am 13. Juli in Rio de Janeiro zu bescheren.
„Wir sind hier, um Weltmeister zu werden und nicht, um irgendwelche Rekorde zu schlagen“, verkündete der 24-Jährige nach seinen WM-Toren sechs bis acht. Müller schwang sich zum leidenschaftlichen Anführer in der Arena Fonte Nova auf und gab auch hinterher als Wortführer die weitere Marschroute vor: „Wir brauchen nicht so zu tun, als wenn wir hier als Übermannschaft gestartet sind. Im nächsten Spiel geht es wieder bei Null los.“
Ein „Meilenstein“ Richtung Achtelfinale war die Demütigung von Cristiano Ronaldo und Co. dennoch, wie Mats Hummels sagte. Der Schütze des 2:0 wird im zweiten Gruppenspiel am Samstag gegen Ghana wohl nur Zuschauer sein. Der Dortmunder erlitt bei seinem starken WM-Debüt eine Prellung im rechten Oberschenkel mit Einblutung in die Muskulatur und muss nach Verbandsangaben eine zeitlich nicht abzusehende Trainingspause einlegen.
Abwehrkollege Jérôme Boateng musste am Dienstag ebenfalls mit dem Hubschrauber zur Untersuchung seiner rechten Hand in die Klinik nach Eunápolis geflogen werden. Der Ronaldo-Bewacher hatte bei einem Sturz einen Teilabriss des Seitenbandes am Daumen erlitten. Der Münchner muss sechs Wochen lang eine Schiene tragen, mit der er aber spielen kann, wenn der Schiedsrichter zustimmt.
Von einem Druckabfall nach dem geglückten Start mochte keiner reden. „Der Druck wird weiter bestehen bleiben, weil wir noch nichts erreicht haben“, sagte Torwart Manuel Neuer. Löw wird die Spannung schnell wieder aufbauen, auch wenn er seinen 23 Akteuren zur Belohnung am Dienstag nach dem Training bis zum Abendessen frei gab. Die schon angereisten Spielerfrauen durften erstmals das Campo Bahia aufsuchen. „Ich werde gemeinsam mit den Jungs ziemlich viel am Pool relaxen“, kündigte Müller an.
Löw beriet mit Chefscout Urs Siegenthaler bereits den neuen Matchplan für Ghana. Der drohende Hummels-Ausfall würde einen Umbau der Abwehrreihe erforderlich machen, Boateng könnte dann von rechts außen ins Zentrum rücken. Eine Genugtuung über die geglückte Turnier-Punktlandung seines Teams nach einer von Kritik und Zweifeln begleiteten Vorbereitung unterdrückte Bundestrainer Löw: „Ich habe gespürt, dass sich die Mannschaft nicht aus der Ruhe und Konzentration bringen lässt.“
Auch der 54-Jährige selbst hat seinen Weg konsequent verfolgt. Über 26 Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten in Deutschland erlebten mit, wie sich die Diskussionen um falsche und richtige Neuner im Sturm oder das Novum mit vier Innenverteidigern in der Abwehr erst einmal in Luft auflösten. Das im Ernstfall zuvor kaum erprobte 4-3-3-System ging auf, und mit Hilfe der Fitnesstrainer und Mediziner zauberte Löw in Salvador eine Elf auf den Platz, die „auf den Punkt topfit“ war, wie er stolz betonte.
Natürlich überstrahlte Müller, der als Zugabe auch noch Portugals Abwehrchef Pepe beim Stand von 2:0 zur Roten Karte reizte, alles. Die personellen Entscheidungen aber passten insgesamt, bis hin zur unerwarteten Aufstellung von Mario Götze. „Wenn es eng ist, ist er ein Spieler, der sich gerade gegen große Abwehrspieler sehr gut in Szene setzen kann“, begründete Löw.
Der 16. Juni 2014 war zugleich eine Zäsur: WM-Veteran Miroslav Klose (36) und Vize-Kapitän Bastian Schweinsteiger (29) spielten keine Minute. Die kraftstrotzenden Mittzwanziger wie Müller (24), Kroos (24), Hummels (25), Boateng (25) und der sich nach seinem Kreuzbandriss quälende Leitwolf Khedira (27) haben das Kommando neben Kapitän Lahm (30), Abwehrchef Mertesacker (29) und Torwart Neuer (28) übernommen. „Wenn wir weiter als Mannschaft so zusammenstehen, wird es schwer, uns zu schlagen“, verkündete Boateng, der Weltfußballer Ronaldo wie schon bei der EM 2012 nicht zur Entfaltung kommen, sondern wieder leiden ließ.
Ghana ist am Samstag der zweite Prüfstein, dann im noch heißeren und feuchteren Spielort Fortaleza. „Ich glaube, dass uns Ghana bei diesen Hitzebedingungen viel abverlangen wird“, meinte Löw.
Müller wird's schon richten. „Ich gehe nicht davon aus, dass ich im nächsten Spiel wieder drei Tore machen werde - aber ich versuche es“, kündigte er an. Löw geriet förmlich ins Schwärmen über den „unorthodoxen“ Angreifer: „Er hat einfach nur einen Gedanken im Kopf: Wie kann ich am Ende ein Tor erzielen?“ Müller ist mit seinen unberechenbaren „Quer- und Diagonalläufen“ selbst für den Bundestrainer eine Art Wundertüte, so wie es das DFB-Team insgesamt bis zur Portugal-Offenbarung war. Neuer bremste dennoch die Euphorie: „Es war nicht alles perfekt - das muss man im Hinterkopf haben.“