Özil und Gündogan bei Erdogan: Die unterschätzte Affäre

Die lauten Pfiffe gegen Ilkay Gündogan beim Länderspiel in Leverkusen beweisen: Wenn die DFB-Delegation am Dienstag zur WM nach Russland fliegt, ist viel Ballast an Bord.

Schmerzhafte Erfahrung: Ilkay Gündogan wurde am Freitagabend in Leverkusen lautstark ausgepfiffen.

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Leverkusen. Der türkische Taxifahrer öffnete am späten Freitagabend freundlich die Türen. Auch eine vergleichsweise kurze Fahrt von der Haltestelle Leverkusen-Mitte bis zum Parkplatz am Chempark war ihm genehm, obwohl es nach einem Länderspiel sicherlich lukrativere Touren gegeben hätte. Dass die deutsche Nationalmannschaft zuvor mit Ach und Krach gegen Saudi-Arabien (2:1) gewonnen hatte, hatte der Mann am Radio mitverfolgt. Und so entwickelte sich bald eine angeregte Diskussion über den Fußball, die WM und das Leben. Nur als es um seine Meinung zu Mesut Özil und Ilkay Gündogan und ihren Besuch beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ging, herrschte plötzlich Funkstille. Leichtes Grummeln. Langes Schweigen. Schwieriges Thema.

Vor allem für den Weltmeister. Vor der Abreise nach Russland kocht die Debatte um die beiden türkischstämmigen Nationalspieler wieder hoch. Joachim Löw konnte vor der Einwechslung von Gündogan bei der WM-Generalprobe noch so sehr das Publikum zur Unterstützung auffordern: Die lauten Pfiffe drangen gefühlt übers nahe gelegene Flüsschen Dhünn bis in den Leverkusener Stadtpark. „Das hat mich schon geschmerzt“, sagte der Bundestrainer. Er könne das auch nur schwer nachvollziehen. „Ilkay hat gesagt, dass er sich absolut mit den Werten von Deutschland identifiziert, dass er keine politische Botschaft senden wollte.“ Irgendwann müsse auch mal Schluss sein. Löw sah einen „geknickten“ Gündogan: „Man sieht, dass ihn das beschäftigt. Da muss er jetzt einfach durch. Ich hoffe, dass er das kann.“

Ähnliche Unmutsäußerungen hätten sicher auch Mesut Özil erreicht, der wegen einer Knieprellung nicht zum Einsatz kam. Der eine bat beim Verlassen der Arena um Verständnis, nichts sagen zu wollen (Gündogan), der andere machte sich wortlos davon (Özil). Immerhin twitterte der 27 Jahre alte Gündogan am Samstag: „Letztes Spiel vor der Weltmeisterschaft und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen.“ Özil, Spielmacher des FC Arsenal, setzt dagegen auf eine strikt defensive Strategie. Der 29-Jährige glaubt, mit dem Besuch beim Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier genügend Abbitte geleistet zu haben.

Offenbar scheint aber die Macht der Bilder mit dem Überreichen eines Trikots ans türkische Staatsoberhaupt zu erdrückend. Der Schluss liegt nahe, dass mit dem Erdogan-Fotoshooting in London mehr kaputt gegangen ist als viele denken. Auch DFB-Präsident Reinhard Grindel kommt mit Beschwichtigungen dieser Art nicht weiter: „Beide haben das Recht, wenn sie für Deutschland kämpfen, von Deutschland unterstützt zu werden.“

Und selbst der ansonsten instinktsichere Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff hat das feine Gespür der Anhängerschaft falsch eingeschätzt. Im Vorlauf der Fernsehübertragung aus Leverkusen fuhr der DFB-Direktor ARD-Mann Alexander Bommes wegen Nachfragen harsch an: „Ihr bringt es doch jeden Tag wieder, weil ihr keine Themen habt.“ Nicht die Thematisierung der Medien, sondern der Umgang der Protagonisten ist das Problem: Aussitzen hilft nicht mehr. Und totschweigen erst recht nicht.

Liga-Präsident Reinhard Rauball hat das Krisenmanagement von Verbandsseite in der „Bild am Sonntag“ gerügt: „Das Thema ist in der Tat unterschätzt worden. Und ich glaube auch, dass man es nicht alleine mit den Maßnahmen und Erklärungen, die bisher erfolgt sind, aus der Welt schaffen kann.“ Der richtige Zeitpunkt für eine solche Maßnahme sei „entweder schon vorbei oder sehr schwer nachzuholen“. Auf jeden Fall ist für die Mission Titelverteidigung unnötiger Ballast an Bord, wenn morgen LH 2018 Richtung Moskau startet. Die deutsche Delegation scheint zu hoffen, dass sich bei den WM-Spielen die mitreisenden Fans — 62 541 Karten sind für die WM an deutsche Anhänger gegangen — auf Unterstützung beschränken. Sicher ist das allerdings nicht. „Ich bin selbst gespannt, welche Reaktionen es in Russland noch geben wird“, sagte Löw.

Die Mitspieler der gebürtigen Gelsenkirchener appellierten daran, die beiden nicht auszugrenzen, sondern einzugliedern. Abwehrchef Mats Hummels empfahl eine neue Form des Dialogs. „Ab jetzt bitte ich die Leute einfach darum, daran zu denken, dass wir Weltmeister werden wollen — und dafür brauchen wir den Illy ebenso wie den Mesut“, erklärte Stürmer Mario Gomez.

Auch der Taxifahrer in Leverkusen hatte kurz vor dem Ausstieg noch etwas zu Gündogan und Özil zu sagen. „Sie sind Menschen.“ Sollte heißen: Und Menschen machen Fehler.