„Unser Team sollte seine Spielidee gegen Argentinien beibehalten“
Frank Wormuth, Trainerausbilder des DFB, beantwortet Fragen zur Weltmeisterschaft
Ist es überhaupt seriös, wenn ich Sie zum 7:1 der deutschen Mannschaft etwas frage? So eine völlig unerwartete, sensationelle Spielentwicklung kann man doch eigentlich gar nicht erklären — oder doch?
Oh, doch. Ich sehe auf jeden Fall drei Punkte, die als Probleme offensichtlich waren. Erstens: Brasilien ist trotz eines mangelhaften Abwehrverhaltens ins Halbfinale gekommen. Die Mannschaft war weniger gut ballorientiert, verdichtete nicht den Raum in Ballnähe, so dass eine spielstarke Mannschaft, die die Ballkombination vom Läuferischen beherrscht, diese Räume bespielen kann. Das hat unsere Mannschaft beeindruckend hinbekommen. Zweitens: Das individuelle defensive Zweikampfverhalten der Brasilianer ist schlecht. Deshalb begingen sie auch die meisten Fouls, denn sie waren entweder zu früh oder zu spät am Gegner.
Unsere Spieler haben sich so bewegt, dass die Brasilianer zu spät kamen. Weil unsere Spieler nicht gleich den Abschluss gesucht haben, sondern den besser Postierten anspielten, sahen die Tore aus wie in einem lockeren Trainingsspiel. Aber — glauben Sie mir — dazu bedarf es hoher Laufinvestition. Drittens haben die Brasilianer nicht als Mannschaft kombiniert, sondern meist als Solisten. Gegen eine echte Mannschaft konnten sie sich nicht behaupten.
Was halten Sie von der These, dass sich die Brasilianer mental und emotional derart überfrachtet haben, dass sie regelrecht zusammenbrachen, als ein undenkbarer Zwei-Tore-Rückstand Realität war?
Der These stimme ich absolut zu. Der zweite Treffer war für die Brasilianer psychologisch betrachtet der Schlüssel für die Niederlage. Sie konnten es einfach nicht verstehen, dass sie 0:2 zurücklagen. Sie hatten sich nie mit diesem Gedanken auseinandergesetzt. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes geschockt. Und dann hat sich das deutsche Team auch in einen Rausch voller Überzeugung gespielt. Der Sieg ist begründbar, aber es hat auch alles derart gut zusammengepasst, wie man es selten erlebt.
Haben wir es richtig gesehen, dass die Deutschen auf das Gegenpressing der Brasilianer ruhig reagiert haben und damit die bessere Antwort darauf hatten als Kolumbien — vor allem natürlich in der Anfangsphase?
Auch das kann ich bestätigen. Unsere Mannschaft hat ihre Passqualität in diesem Spiel wieder gefunden. Und sie waren von Anfang an überzeugt, dass sie gewinnen können. Dieses Selbstvertrauen spiegelt sich dann in den Ballstafetten wider. Ich weiß, dass selbst im Abschlusstraining alle einen lockeren Umgang miteinander hatten. Das ist die Kunst: Locker bleiben, aber bei Anpfiff zu einhundert Prozent anwesend. Kompliment ans Trainerteam, dass sie die Mannschaft so hingebracht hat.
Zum zweiten Halbfinale: Warum haben zwei so spielstarke und erfahrene Mannschaften so wenig Fußball geboten?
Argentinien hat sich schon das ganze Turnier mit einer Defensivstrategie durchgearbeitet. Von daher war klar, dass die Argentinier auf Sicherheit weiterhin Wert legen würden. Die Niederlande hat im Grunde nicht anders gespielt. Gegen Spanien konterten sie vom Feinsten. Zudem sind lange Ballstafetten als Mittel der Torverhinderung eingesetzt worden. Frei nach dem Motto: Solange wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor erzielen. Sie gingen nur bei Robbens Dribblings Risiken ein. Chancen gab es wieder erst gegen Ende, als man dann doch langsam das Elfmeterschießen vermeiden wollte
Zum Finale: Wie sollte die deutsche Mannschaft das Spiel angehen — ähnlich fehlervermeidend wie die Niederländer oder mit dem kalkulierten Risiko aus dem Brasilien-Spiel?
Grundsätzlich die wenigen Tormöglichkeiten, die die Argentinier zulassen, nutzen. Unser Team wird auf ein starkes Defensivkonzept treffen. Da heißt es, geduldig den Ball laufen lassen und auf die wenigen Lücken warten, in die unsere Spieler wie Pfeile aus der Tiefe in die Tiefe starten müssen. Also in Läufe investieren.
Und Eins- gegen Eins-Situationen suchen und auch gewinnen, dass sich deren Kompaktheit verschiebt. Und dann vor allen Dingen auf die Konteraktionen der Südamerikaner vorbereitet sein, also gut nachschieben und insbesondere auch in der gegnerischen Hälfte zustellen. Die Mittellinie darf nicht das Ende für die Innenverteidiger sein, weil sich Messi sehr gerne ins Mittelfeld fallen lässt, um von dort dann seine Dribblings anzusetzen.
Eigene Konteraktionen zu fahren wird schwer, da der Gegner immer mit vielen Spielern auch im Angriff hinter dem Ball steht, es sei denn, das deutsche Team geht wieder in Führung. Dann müssen auch die Argentinier kommen und bieten uns dann Räume an.
Welche Schwachstellen erkennen Sie bei den Argentiniern?
Wenn man überhaupt von Schwäche reden kann, dann dass sie bisher in der Offensive von Messi und di Maria gelebt haben. Sollten diese aus dem Spiel sein, dann hat man die Offensive im Griff. Aber dies immer unter der Bedingung, dass unsere Mannschaft keine Fehler hinten macht und alle top drauf sind.
Wie beurteilen Sie Messi bei dieser WM? Sollten ihn die Deutschen zu bekämpfen wie die Niederländer?
Er macht den Unterschied mit seinen Dribblings aus. Und er hat viel Kraft für diese Einzelaktionen, weil er nach hinten nichts investiert. Wenn er vorne mal anläuft, dann macht er es nur, um zu erschrecken. Die Niederländer haben ihn durch de Jong in Manndeckung genommen. Er kam da sicherlich nicht optimal in sein Spiel rein. Aber van Gaals Team hatte seinen Schwerpunkt ja auch auf Defensive gelegt. Unser Team sollte ihre Spielidee beibehalten und nicht wegen Messi Veränderungen machen.