Vom Offensiv-Spektakel zur WM der Verteidiger
São Paulo (dpa) - In dem großen Wirbel vor dem WM-Halbfinale gegen Deutschland ist bislang etwas untergegangen, dass Brasiliens Verteidiger Thiago Silva nach dem Turnier angeblich für rund 50 Millionen Euro zum FC Barcelona wechseln soll.
Eigentlich wollte Barça ja dessen kongenialen Partner David Luiz verpflichten, aber der geht jetzt schon für rund 50 Millionen zu Paris St. Germain. Und auch einen Anruf beim Berater von Mats Hummels können sich die Spanier wohl sparen. Denn spätestens nach seinen bislang so starken Leistungen in Brasilien und seinem Siegtor zum 1:0 gegen Frankreich würde ihn Dortmunds Trainer Jürgen Klopp wohl nicht einmal dann hergeben, wenn man ihm dafür sogar 60 Millionen in Aussicht stellt.
Wer nach Belegen dafür sucht, dass Abwehrspieler bei dieser Fußball-WM mit zunehmender Dauer immer wichtiger werden, hat schnell verschiedene Zahlen zur Hand. Die immer höheren Ablösesummen, die europäische Top-Vereine für einen früher eher verpönten Spielertyp zahlen, sind nur ein Beispiel. Andere besagen: Drei von fünf Toren in den Viertelfinals wurden von Verteidigern erzielt. Kein einziges der vier Spiele endete mit mehr als einem Tor Differenz.
Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb dazu: „Die deutschen Könige der Vorrunde waren Stürmer. Die deutschen Kaiser der Ausscheidungsspiele sind ein Torwart und ein Innenverteidiger. Und auch Startrainer José Mourinho vom FC Chelsea ist der Überzeugung, dass die Gelbsperre von Thiago Silva die Brasilianer am Dienstag härter treffen wird als der Ausfall des verletzten Stürmerstars Neymar. „Thiago Silva ist für dieses Team wichtiger als Neymar“, sagte der Portugiese in seinem WM-Blog für eurosport.yahoo.com. „Denn das brasilianische System fußt auf einer starken Defensive und einer starken Organisation. Thiago Silva gibt dieser Mannschaft sehr viel Stabilität.“
Die Frage ist: Wird eine Weltmeisterschaft, die als Offensiv- Spektakel begann, in ihrer entscheidenden Phase auf einmal von Verteidigern dominiert? Diese These vertritt auch Gerard Houllier, der früher den FC Liverpool und die französische Nationalmannschaft trainierte und heute der sogenannten „Technical Study Group“ der Fifa angehört. Das ist eine Kommission, die die WM-Spiele für den Weltverband analysiert. „Am Anfang haben wir Fußball gesehen, der mich an Basketball erinnerte. Je näher wir aber dem Finale kommen, desto kontrollierter wird gespielt“, meinte der Franzose.
Dafür spricht in jedem Fall, dass gleich zwei von vier Halbfinalisten in den vergangenen Tagen eine Art ungeschriebenes WM-Gesetz gebrochen haben. Das besagt, während eines laufenden Turniers auf keinen Fall die Besetzung der Innenverteidigung zu wechseln, wenn man nicht durch eine Sperre oder Verletzung dazu gezwungen wird. Joachim Löw und der argentinische Trainer Alejandro Sabella haben sich allerdings nicht darum geschert und im einen Fall Per Mertesacker auf die Bank gesetzt sowie im anderen den schon 33 Jahre alten früheren Bayern-Profi Martin Demichelis quasi für die Nationalmannschaft reaktiviert. Stabilität geht über alles - das war hier die Botschaft.
Allerdings hat sich der Fußball mittlerweile so entwickelt, dass ein bisschen mehr Vorsicht nicht automatisch zu Lasten der spielerischen Qualität geht. Ein moderner Verteidiger muss heute den nächsten Spielzug des Gegners vorausahnen, den eigenen Angriff einleiten und manchmal vorne auch vollenden können. Genau das macht die besten Leute auf dieser Position auch so begehrt.
Ein Vollblutstürmer wie Ronaldo kann sich daran nur schwer gewöhnen. Der Weltmeister von 2002 und noch immer amtierende WM-Rekordtorschütze klagte nach dem Viertelfinale: „Wir haben drei fantastische Stürmer verloren: James Rodriguez, Karim Benzema und Neymar.“ Ein Tor von Mats Hummels ist da für ihn kein Ersatz.