Die Krisen der Anderen Wie Fußball-Großmächte auf Pleiten reagierten
Moskau (dpa) - Deutschland ist mit seiner Fußball-Depression nicht alleine. Jede Top-Nation hatte schon den Moment des großen Scheiterns. Spanien erwischte es als Weltmeister vor vier Jahren in Brasilien, Frankreich zwölf Jahre zuvor in Südkorea.
Italien leidet sogar seit dem Titel 2006.
Brasilien musste das legendäre 1:7 gegen die DFB-Elf bei der Heim-WM verdauen, und die Niederlande sind seit dem dritten WM-Platz 2014 bei großen Turnieren zum zweiten Mal nur Zuschauer. Englands Historie des Scheiterns dauert sogar mehr ein halbes Jahrhundert.
Ein Blick ins Ausland zeigt verschiedene Wege, wie man mit Krisen umgehen kann.
BRASILIEN: Die Brasilianer scheinen ihre Lehren aus einer der größten Demütigungen ihrer Fußballgeschichte gezogen zu haben. „Die Erfahrungen, die sie 2014 gemacht haben, zum Teil machen mussten, haben sie als Team wachsen lassen“, sagte Rekordnationalspieler Cafu jüngst im Interview der Münchner „Abendzeitung“. Seit dem 1:7 im WM-Halbfinale gegen Deutschland hat sich die Seleção auf Umwegen verändert. Erst musste Luiz Felipe Scolari als Trainer gehen, Carlos Dunga kehrte zurück, musste wenig später auch gehen, dann kam Tite - und mit dem 57-Jährigen auch der Erfolg. Der detailversessene Coach verringerte die Abhängigkeit von Neymar und disziplinierte die Spielweise. Mit dem Ergebnis, dass Brasilien vor dem Achtelfinale gegen Mexiko der vielleicht größte Favorit auf den Titel ist.
ENGLAND: Schlimmer als das WM-Vorrunden-Aus 2014 traf England zwei Jahre später das 1:2 im EM-Achtelfinale gegen Island. Trainer Roy Hodgson trat nach der wohl größten Blamage der jüngeren englischen Fußball-Geschichte zurück. Nachfolger Sam Allardyce musste schon nach nur einem Spiel gehen, weil er verdeckt recherchierenden Reportern Tipps zur Umgehung von Transferregeln gegeben hatte. Der damalige U21-Coach Gareth Southgate lehnte den Job anfangs ab, wurde Interims- und dann doch Cheftrainer. Southgate traf unbequeme Entscheidungen gegen Altgediente wie Rekordstürmer Wayne Rooney oder Torwart Joe Hart, setzte auf die Jugend und stärkte den Teamgeist. Spätestens bei Englands 6:1-WM-Rekordsieg gegen Panama wurde aus der Notlösung ein Hoffnungsträger. Ob das so bleibt, hängt vom weiteren WM-Verlauf ab.
FRANKREICH: Mit dem überraschenden Vorrunden-K.o. 2002 ist die französische Erfolgsgeschichte nach den Triumphen bei der WM 1998 und der EM 2000 abrupt zu Ende gegangen. Das Scheitern wurde eher mit der Arroganz der Stars erklärt. Am guten Nachwuchssystem musste nichts verändert werden, das zeigten die Erfolge der Jugendmannschaften. Frankreich brachte sich eher durch Disziplinlosigkeiten seiner Top-Spieler wie beim Kopfstoß von Zidane im WM-Finale 2006 oder dem Eklat bei der Spielerrevolte 2010 in Knysna um eigene Erfolge. So legt Didier Deschamps seit seinem Amtsantritt 2012 viel Wert auf Disziplin. Dazu kann die Equipe Tricolore weiter auf ein großes Reservoir an internationalen Topspielern wie Antoine Griezmann, Paul Pogba oder den jungen Kylian Mbappé zählen.
ITALIEN: Der viermalige Weltmeister erlebte in seiner jüngeren Fußball-Geschichte mehrere Tiefpunkte. Bei den Weltturnieren 2010 und 2014 schieden die Azzurri jeweils in der Vorrunde aus, 2010 sogar als Weltmeister. Marcello Lippis Vertrag als Nationaltrainer lief 2010 aus, Cesare Prandelli zog 2014 die Konsequenzen und trat zurück. Ein Umbruch oder Neuaufbau wurde jedoch beide Male versäumt. Mit dem ersten Scheitern in einer WM-Qualifikation seit 60 Jahren erlebte Italien nun ein totales Desaster und ist in Russland Zuschauer. Der neue Nationalcoach Roberto Mancini soll den Neuaufbau vorantreiben, doch das oft beklagte Grundproblem der fehlenden Talente bleibt. Tiefgreifende Veränderungen an ihrer Nachwuchsförderung haben die Italiener trotz der Misserfolge nicht eingeleitet.
NIEDERLANDE: Das Verpassen der EM 2016 wurde zwei Jahre nach Platz drei bei der WM in Brasilien noch als Ausrutscher gewertet. Doch dass die Probleme im niederländischen Fußball grundlegender Natur sind, macht das erneute Fehlen bei der WM in Russland deutlich. Eines der großen Probleme ist das schwache Niveau in der heimischen Liga, durch das die Clubs auch international keine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass im Verband jahrelang Chaos herrschte, nach van Gaal in Hiddink, Blind und Advocaat die falschen Trainer beschäftigt wurden. Jetzt sollen es Ronald Koeman als Bondscoach und Nico-Jan Hoogma als Sportdirektor richten. Hoffnung macht der Unterbau: Die U17 wurde jüngst Europameister. Aber auch in der Nachwuchsarbeit will Hoogma jeden Stein umdrehen, um wieder den Anschluss zu schaffen.
SPANIEN: Der Kern der Mannschaft besteht noch immer aus fünf Spielern, die schon 2010 Weltmeister wurden: Sergio Ramos, Gerard Piqué, Sergio Busquets, Andrés Iniesta und David Silva. Nationaltrainer Vicente del Bosque durfte nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2014 bleiben, erst zwei Jahre später nach der Achtelfinal-Niederlage bei der EM gegen Italien war seine Ära dann zu Ende. Den Umbruch trieb sein Nachfolger Julen Lopetegui behutsam voran, mit Profis wie Isco und Thiago. Nach 20 ungeschlagenen Spielen unter seiner Regie musste er aber kurz vor WM-Beginn gehen. Interimscoach Fernando Hierro gilt als konservativ, will es sich mit Ramos, Iniesta und Co. nicht verscherzen und setzt Toptalente wie Real Madrids Marco Asensio bislang kaum ein.