Leichtathletik-EM in Berlin: "Wir hoffen auf eine Stimmung wie 1986 in Stuttgart"

Der DLV-Präsident Jürgen Kessing spricht über die anstehende Europameisterschaft in Berlin, Doping und die ewige Konkurrenz des Fußballs.

Foto: dpa

Heilbronn. Lange Tage, kurze Nächte: Jürgen Kessing, seit acht Monaten Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), hat viel zu tun. Am 7. August beginnt die Leichtathletik-Europameisterschaft in Berlin. „Wenn es noch ein Sommermärchen gibt, dann nur bei uns“, sagt der Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen.

Hand aufs Herz: Was ging Ihnen durch den Kopf, als die Fußball-Nationalmannschaft bei der WM sang- und klanglos ausgeschieden ist?

Jürgen Kessing: Als Sportler bin ich ein Stück weit traurig. Auf der anderen Seite ist das eine Chance für uns Leichtathleten zu zeigen, dass es noch deutsche Athleten gibt, die sehr erfolgreich sein können. Deswegen freuen wir uns auf die Heim-EM in Berlin - wann hat man das schon im eigenen Land?

Hoffen Sie auf ein Sommermärchen?

Kessing: Wenn es noch eines gibt, dann nur bei uns. Wir hoffen auf eine Stimmung wie bei der EM 1986 in Stuttgart, da träumen heute noch viele davon. Dort herrschte Gänsehaut-Atmosphäre.

Wie sehr wurmt es, dass 12,74 Millionen das WM-Vorrundenspiel Polen — Kolumbien sehen, aber nur 2,77 Millionen das WM-Finale über 100 Meter mit Usain Bolt?

Kessing: Das liegt vielleicht auch daran, dass die Leichtathletik nicht mehr so präsent ist wie vor 20 Jahren. Der Fußball hat es verstanden, einen Hype auszulösen, dass fast alle anderen Sportarten ins Hintertreffen geraten sind. Wir hoffen, durch die EM wieder etwas Rückstand aufzuholen und sind dankbar, dass wir mit ARD/ZDF einen Vertrag bis 2024 für Großveranstaltungen besitzen. Andere Sportarten finden im TV gar nicht mehr statt.

Wird das Olympiastadion zur EM voll werden?

Kessing: Das Stadion ist groß, daher ist es eine Herausforderung. Wir haben schon mehr als 250 000 Karten abgesetzt und gehen davon aus, dass es Freitag bis Sonntag sehr, sehr voll sein wird. Unter der Woche haben wir noch Luft.

Ihr Ziel sind 320 000 Karten plus.

Kessing: Wir rechnen im Tagesschnitt mit 50 000 Zuschauern — das ist mehr als bei den vergangenen beiden Europameisterschaften zusammen.

Berlin ist Teil der European Championships, das heißt sieben EMs parallel: Leichtathletik in Berlin, Schwimmen, Radsport, Kunstturnen, Rudern und Triathlon sowie eine neue Golf-Team-Europameisterschaft in Glasgow. Lässt sich die Idee der langen Wintersport-Wochenenden in den Sommer transferieren?

Kessing: Die Menschen haben im Sommer mehr Möglichkeiten der sportlichen Betätigung. Es ist der Versuch des Fernsehens, ein neues Format zu finden, um diese Effekte, die man im Winter sicher hat, zu nutzen. Mit der Art Mini-Olympia wollen sie im Sommer etwas dagegensetzen. Damit sollen auch andere Sportarten eine Chance bekommen, wahrgenommen zu werden.

Und womöglich der Übermacht des Fußballs trotzen?

Kessing: Möglicherweise wird die WM in Russland mal der Knackpunkt für den Fußball in Deutschland. Fußball ist fast nur noch Kommerz. Das spüren die Menschen. Das ist die Chance für andere Sportarten, in denen Athleten authentischer rüberkommen.

Leichtathletik und Doping sind zuletzt nicht zu trennen gewesen. Stecken Sie im Zwiespalt, dass einerseits aufgeräumt werden muss, positive Fälle aber ein Stimmungskiller sind?

Kessing: Für mich ist das kein Zwiespalt, wir gehen mit dem Thema Doping offen um. Der DLV hat über Jahre hinweg in Person meines Vorgängers Clemens Prokop sehr hartnäckig für ein Antidoping-Gesetz gekämpft, das Gott sei Dank gekommen ist. Unsere Athleten werden mit am häufigsten kontrolliert, was uns auch viel Geld kostet.

Müssen Sie in Kauf nehmen, dass es keine Chancengleichheit gibt?

Kessing: Ziel muss e sein, dass alle Länder mit den gleichen Regularien behandelt werden - dann sieht die Welt wieder ganz anders aus. Dann sind wir auch in Disziplinen, wo wir heute das Gefühl haben, wir hinken hinterher, mindestens wieder auf Augenhöhe.

Wird genug getan?

Kessing: Im Kampf gegen Doping kann man nie genug tun. Es ist bisher zu wenig passiert. Die Frage ist, wer muss da was tun? Ich denke, da ist zuallererst der russische Sport gefragt, um die Sauberkeit und jederzeitige Kontrollierbarkeit einer unabhängigen Instanz zu gewährleisten. Das ist in Staaten, die nicht so offen sind, schwierig.