Leichtathletik-EM Zehnkämpfer gewinnt Gold: Sind wir nicht alle Abele?
Berlin. Der Vergleich mag absurd anmuten, vollkommen übertrieben, unangemessen, und trotzdem. Als Arthur Abele die letzte der zehn Disziplinen absolviert hatte, beim Überqueren der Ziellinie erst lächelte, und dann anfing, sich ein paar Gedanken zu machen, kamen sofort die Tränen.
Nichts kann man so gut verstehen wie das.
Am Morgen danach rang dieser große Athlet, der Triumphator des Zehnkampfes der Europameisterschaften in Berlin immer noch um Fassung. “I have a dream„, sagte damals Martin Luther King, “ich habe einen Traum„. Damals ging es um die Rassediskriminierung in den USA, ein Jahrhundertthema. In Berlin geht es aktuell “nur„ um Sport, klar, aber was Arthur Abele schaffte, ist auch so etwas wie ein großer Traum, etwas, woran ein Mensch trotz aller Rückschläge immer glaubt, unbeeindruckt, unbeirrt, überzeugt von dem großen Ziel, irgendwann, und sei es noch so fern, der König der Athleten zu sein.
Wer den Sport liebt, kann jede einzelne der Tränen Abeles nachvollziehen. kann sie mitvergießen, kann versuchen, zu erfühlen, was in diesem großen Moment nach dem 1500-Meter-Lauf diesen mächtigen Körper schüttelte als sei ein Windstoß in einen Papierstapel gefahren.
Arthur Abele aus Ulm verlor die Beherrschung, und dieser Athlet hatte alles Recht dazu. Weil dieser Mann einer ist, der “das das Feuer aus dem Stein schlagen kann„, wie das der große deutsche Olympier Willi Daume in seiner fast grenzenlosen Verehrung des olympischen Athleten einmal, bis heute unvergessen, äußerte.
Da stand dieser Arthur Abele im Olympiastadion zu Berlin, gewann nach einer grenzenlosen, fast unglaublichen Leidensgeschichte endlich das, warum er vor langer Zeit Leichtathlet geworden war. Eine Medaille bei einem großen bedeutsamen Wettbewerb. Auf dem Weg zum Olymp endlich einmal nicht durch Verletzungen aufgehalten worden zu sein. Endlich ganz oben. Tränen ohne Ende. Nach einer Leidensgeschichte, die vielleicht nur der Sport schreiben kann. Und genau deshalb ist der Sport das, was er ist: Ganz großes, faszinierendes Kino.
Zuerst stockte dem König der Leichtathleten die Stimme, dann wurde Arthur Abele erneut von seinen Gefühlen überwältigt. Mit Tränen in den Augen sprach der Europameister noch am Morgen nach seinem Gold-Coup von Berlin über seinen Weg zum Titel. “Es war unbeschreiblich, was da an Emotionen hochkam„, sagte der 32-Jährige — und brauchte erst einmal ein Taschentuch. Dass Abele seine lange Karriere mit der ersten großen internationalen Medaille veredeln konnte, hätte noch vor nicht allzu langer niemand erwartet. Bereitwillig erzählte Abele immer wieder seine persönliche Geschichte mit Verletzungsrückschlägen, einer fast fünfjährigen Zehnkampf-Pause und dem Schock-Moment im vergangenen Dezember. Nach einer Mandelentzündung war damals plötzlich seine linke Gesichtshälfte gelähmt. “Ich dachte, dass ich einen Schlaganfall habe„, erinnerte der Vater von Sohn Jay Travis, der ihn mit einem Virus angesteckt hatte, an die schwere Zeit.
Im Bundeswehrkrankenhaus von Ulm wurde ihm Hirnmasse abgezogen, er musste sich einer Kortison-Kur unterziehen. “Das sollte ewig dauern„, berichtet er in Berlin. “Entweder ein halbes Jahr Pause — oder nie mehr Leistungssport.„ Alle Pläne lagen auf Eis. Als sich die Situation stabilisierte, hatte Abele sechs Kilogramm zugenommen. Der Körper reagierte auf die Mehrbelastung, bis März machte die Achillessehne stets Probleme.
Abele sagt: “Es ist die Botschaft des Sports, nie aufzugeben, wenn man einen großen Traum hat.„ Abele konnte zwischen 2008 und 2013 verletzungsbedingt keinen Zehnkampf beenden. Und deshalb soll jetzt auch mit 32 Jahren noch nicht Schluss sein. “Bis 2020 mache ich weiter„, sagt der älteste Europameister der Geschichte.
Im Herbst 2019 stehen die Weltmeisterschaften in Doha an, anschließend soll Olympia in Tokio als Höhepunkt folgen. “Ich will versuchen, den Titel von Berlin als noch größeren Ansporn zu nehmen. Dann kann ich nochmal ganz oben dabei sein.„ Als fünfter Deutscher holte sich Abele mit einer konstanten Vorstellung den Titel.
“Ich erinnere mich noch an eine Zeit, wo Zehnkampf nicht mehr als förderwürdig galt„, sagt Chefbundestrainer Idriss Gonschinska in Berlin und schwärmt von Abele. “Arthur ist ein Kämpferherz, der aus unmöglichen Situationen zurückkommt, und steht einfach für das, was wir Kampf um jeden Zentimeter genannt haben.„ Aber Abele muss sich nun der Konkurrenz aus dem eigenen Lager erwehren. Der erst 20 Jahre alte Niklas Kaul verpasste als Vierter nur knapp eine Überraschung in Berlin. “Ich hoffe, es dauert nicht mehr allzu lange„, scherzte der frühere Junioren-Weltmeister auf die Frage, wann er Abele schlagen könne. Dem Europameister dürfte bei Weltmeisterschaft und Olympia entgegen kommen, dass im Emirat und in Japan heiße Temperaturen wie im Glutofen des Berliner Olympiastadion zu erwarten sind.
“Ich bin der Typ, der es liebt in der Hitze„, sagt Abele entkräftet, aber beeindruckend glücklich. Auf seine neue Rolle freut er sich: “Ich bin der Gejagte jetzt, die Herausforderung nehme ich an.„ Es ist nicht die erste seiner Karriere. Was für ein großartiger Athlet. “Der Titel von Berlin ist nochmals eine ganz besondere Motivation, jetzt werde ich zwei Jahre Vollgas geben.„ Mutig, der alte Zehnkämpfer — und einzigartig. (GEA)