Ross Brawn: Der Meistermacher auf der Anklagebank
Paris (dpa) - Demnächst hat Ross Brawn womöglich wieder mehr Zeit zum Fliegenfischen. Nicht wenige spekulieren, dass der 58-Jährige aus Manchester nach der laufenden Saison Abschied aus der Formel 1 nehmen könnte.
Ein potenzieller Nachfolger stünde bei MercedesAMG für den Teamchef auch schon parat. Eine Verurteilung des deutschen Werksrennstalls in der Reifentest-Affäre durch das Internationale Tribunal in Paris könnte seinen Abgang beschleunigen: Brawn verteidigte am Donnerstag als einziger aus der Teamleitung den Rennstall zusammen mit Anwälten vor den unabhängigen Richtern.
Brawn ist kein Lautsprecher, Brawn ist ein Macher. Acht Fahrer-WM-Titel, acht Konstrukteurs-Weltmeisterschaften in knapp 20 Jahren. Und das mit drei verschiedenen Teams. Brawn machte Michael Schumacher zum Rekordchampion. Brawn bescherte Jenson Button den WM-Triumph vor vier Jahren. Damals im BrawnGP-Rennauto - das „Superhirn“ der Formel 1 hatte zuvor für einen symbolischen Euro den Rennstall von Honda übernommen. Die Japaner hatten genug von der Formel 1.
Brawn nicht, nachdem er 2007 ein Jahr Pause eingelegt hatte und seinen Hobbies Rosenzüchten und Angeln gefrönt hatte. Zurück in der Königsklasse des Motorsports, schaffte er 2009, was bis heute keinem anderen gelang. „Ich bin stolz darauf, dass wir das einzige Team in der GP-Historie sind, das in seinem ersten Jahr beide Titel gewonnen hat“, sagte er einmal.
Es war ein Erfolg in Doppel-D. Mit dem sogenannten Doppeldiffusor war Brawn mal wieder ein Meisterstück gelungen, die Konkurrenz hechelte vor allem zu Beginn der Saison 2009 den „Brawnies“ nur verzweifelt hinterher. „Das ist ein Mensch mit Talent und nichts anderes“, kommentierte seinerzeit Keke Rosberg Brawns Qualitäten. Nur wenige Monate später wurde Rosbergs Sohn Nico ein Teil der Brawn'schen Formel-1-Vita.
Mercedes hatte ihm Ende des WM-Jahres 75,1 Prozent des Rennstalls abgekauft. Die Rückkehr der Silberpfeile als Werksteam war perfekt - mit dem Erfolgsgaranten Brawn an der Spitze. Er war es auch, der seinen einstigen Weggefährten Schumacher zurückholte.
„Er hatte mich ja jedes Jahr angesprochen - jedes Jahr gab es irgendwo mal einen Anruf oder durch Zufall ein Treffen. Er sagte: 'Hör mal, überleg dir das, bei mir im Team wäre ein Platz frei'“, erzählte Schumacher einmal. Die Erfolge, die beide bei Benetton und Ferrari gefeiert hatten, blieben im Mercedes aber aus. Der Glanz der Autos, des genialen Strategen und des „Jahrhundert-Piloten“ (Brawn über Schumacher) verblassten.
Auch wenn der findige Brite im vergangenen Jahr mit dem Doppel-DRS mal wieder für Verblüffung - und auch Proteste sorgte. Brawn und auch ein Adrian Newey von Red Bull toben sich dort aus, wo das Reglement ihnen keine eindeutigen Grenzen aufzeigt: in der Grauzone. So wie 1994, als Brawn bei Benetton mit einer angeblich illegalen Traktionskontrolle für Wirbel sorgte.
So wie in der Reifentest-Affäre? Brawn soll es gewesen sein, der sich von FIA-Rennleiter Charlie Whiting die Fahrten im aktuellen Rennwagen Mitte Mai auf dem Circuit de Catalunya absegnen ließ. Diese sind laut Paragraf 22 des Sportlichen Regelwerks eigentlich strengstens verboten. Die Silberpfeile gehen jedoch davon aus, dass solche Tests in Ausnahmefällen zulässig sind, wenn die Probemöglichkeit allen Teams angeboten und zuvor auch entsprechend kommuniziert wurde.
Brawn und auch Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff insistieren immer wieder, dass es sich um einen privaten Pirelli-Test handle. In den Regeln steht, dass Fahrten verboten sind, die von einem Mitbewerber - im Klartext von einem Rennstall - durchgeführt werden. Da ist sie wieder, die Grauzone.
In Paris musste Brawn, dieser immer etwas müde dreinblickende, ausgebildete Atomwissenschaftler und zweifache Ehrendoktor, die Richter von der Rechtmäßigkeit von 1000 Testkilometern im aktuellen Wagen überzeugen. Gelingt es nicht, wird er sicherlich die Verantwortung dafür übernehmen. Und womöglich demnächst wieder mehr Zeit zum Fliegenfischen haben.