Kanada-Chaos: Vettels erste Schwäche
Montreal (dpa) - Sebastian Vettel wollte vor Wut am liebsten schreien, Jenson Button konnte sein Glück kaum fassen: Das komplett verrückte Vier-Stunden-Drama von Kanada hat die Formel 1 in ein Gefühlschaos gestürzt.
Dauerregen, Unfälle, 125 Minuten Zwangspause und sechs Safety-Car-Phasen machten das Montreal-Abenteuer schon zum Klassiker, ehe der finale Knalleffekt mit Vettels Fahrfehler zwei Kilometer vorm Ziel der WM zumindest einen Rest von Spannung bewahrte. „Wenn man das Rennen eine halbe Runde vor Schluss hergibt, fuchst es einen natürlich“, bekannte der Weltmeister, nachdem er zumindest Platz zwei gerettet hatte. „Das war mein schönster Sieg“, beteuerte der begünstigte Brite Button.
„Jenson Button schnappt sich den größten Sieg seiner Karriere in einem aufregenden und chaotischen Kanada-Grand-Prix“, huldigte das englische Boulevard-Blatt „The Sun“ dem Sieger. „Wahnsinns-Formel 1: In der Sintflut siegt Button. Montreal erlebt eine Achterbahnfahrt der Gefühle“, titelte der „Corriere dello Sport“ in Italien.
Vom letzten Platz bretterte der McLaren-Fahrer wie entfesselt nach vorn, auch fünf Reifenwechsel und eine Durchfahrtsstrafe konnten den Champion von 2009 nicht beirren. „Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind“, dichtete sein sonst so nüchterner Teamchef Martin Whitmarsh. Mit seiner wilden Fahrt, die sogar den imponierenden Ritt von Altmeister Michael Schumacher auf Rang vier noch toppte, verhinderte Button den fast schon sicheren sechsten Sieg von Vettel im siebten Saisonlauf. In der WM ist der 31-Jährige nun als Zweiter mit 60 Punkten Rückstand erster Verfolger des Red-Bull-Stars.
„Es ist noch ein langer Weg“, wiederholte Vettel daher sein Motto der vergangenen Wochen. Fast mehr noch als der verpasste Formel-1-Startrekord dürfte ihn wurmen, dass die Schlappe vermeidbar war. Doch zunächst verließen sich Vettel und sein Team zu sehr auf die Führung, anstatt den Vorsprung auszubauen. Dann streikte erneut das Bremsenergie-System KERS. Und schließlich zeigte der 23-Jährige mit seinem Ausrutscher erstmals in diesem Jahr eine Schwäche.
Dabei schien im Kanada-Krimi lange alles für Vettel zu laufen. Renn-Rowdie Lewis Hamilton verabschiedete sich nach einem Crash mit Button früh und musste stattdessen Musik-Megastar Rihanna eine Führung durch seine Garage geben. Fernando Alonso krachte in seinem Ferrari ebenfalls mit Button zusammen, fiel aus und verlor im Titelkampf noch mehr an Boden. „Es ging einfach alles daneben“, klagte der Spanier. „Ferrari geht in einem total verrückten Rennen unter“, titelte „La Repubblica“ in der Ferrari-Heimat Italien.
Andere hatten dagegen deutlich mehr Spaß an der Wetterlotterie mit Überlänge. „Es war das beste Rennen der Saison“, urteilte Mercedes- Motorsportchef Norbert Haug überschwänglich. In dem vor unerwarteten Wendungen strotzenden Grand Prix auf dem Circuit Gilles Villeneuve drohte den Silberpfeilen bis zum Abbruch eine weitere Schmach. Doch nach dem Neustart rauschte Rekordchampion Schumacher bis auf Platz zwei, griff sogar Vettel an und musste erst kurz vor Ende sein erstes Podium für Mercedes verloren geben. „Sehr viel Spaß“ habe es ihm gemacht, verriet der 42-Jährige gewohnt cool.
Mit etwas Abstand konnte auch Kumpel Vettel dem seltsamen Tag auf der Ile Notre-Dame im St.-Lorenz-Strom noch etwas Positives abgewinnen. „Es hätten auch null Punkte sein können“, erkannte der Hesse. „Am Ende kann ein zweiter Platz nicht schaden.“ 161 Punkte hat er nun auf dem Konto, nur 14 fehlen zum Maximum. „Das ist schon eine Leistung“, lobte Teamchef Christian Horner. Für die spanische Sportzeitung „Marca“ ist die Sache schon klar: „Die WM ist praktisch entschieden.“
Zu Beginn des zweiten Saisondrittels ist mehr denn je klar: Nur ein kapitaler Einbruch kann Vettels zweiten Titel noch verhindern. Button, der sich erstmal zur rauschenden Party mit Model-Freundin Jessica Michibata verabschiedete, war in diesem Jahr ebenso wenig konstant genug wie der Montreal-Dritte Mark Webber im zweiten Red Bull. Der Australier liegt nun mit 94 Punkten auf Gesamtrang drei.
Noch weiter weg sind Hamilton (85 Zähler) und Vize-Weltmeister Alonso (69). „Ich muss mich jetzt einfach auf das nächste Rennen und den Rest der Saison konzentrieren“, sagte Hamilton kleinlaut. Nur Alonso traute sich noch eine Kampfansage an Vettel zu: „Die WM ist noch nicht vorbei.“