Olympia 2012: Vom Armenhaus zum Reichen-Viertel
Ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele sind fast alle Sportstätten fertiggestellt. Doch nicht alle haben vom Bauboom im einstmals tristen Eastend profitiert.
London. Für 30 Milliarden Euro räumt die britische Hauptstadt ihr East End auf: Ein Jahr vor den Olympischen Spielen in London ist das Erdreich entgiftet, sind aus Kloaken Bäche geworden und inspizieren junge Eltern Neubauten, wo sich noch vor kurzem Jugendbanden bekriegt haben.
Nicht jedem gefällt diese Erfolgsgeschichte: Der Charakter des wilden Ostens, sagen Kritiker, wird für ein flüchtiges Sportspektakel zu Tode saniert. Großbritanniens ewiges Armenhaus droht zur Yuppie-Enklave aufzusteigen.
Unkraut schießt durch Metallzäune in die klebrigen Abgase der Stadtautobahn. Fish Island ist die feindseligste Landschaft Londons, die düstere Gegenseite zum Glanz und Glamour rund um Piccadilly Circus.
Schrottpressen verdauen hier den Müll der Metropole, verbannt in ein Niemandsland zwischen Betontrasse, Bach und muffigem Kanal. In einem Busdepot machen die Fahrer Pause — schweigend, mit Zigarette, Tätowierung und spöttischem Blick. Die Straße endet an einem Bretterzaun.
Früher hätte dies gut das Ende der Welt sein können, heute erhebt sich über den schmuddeligen Flachbauten die futuristische Dachkrone des Olympia-Stadions. Für Künstler wie Paul Bryan, Jeremy Newton, Obi Mgbado und Oliver David könnte es gar nicht schlimmer kommen: „Es hat bisher keinen anderen Ort in Großbritannien gegeben, an dem Künstler so billig so viel Platz zum Experimentieren haben“, sagt Oliver David.
600 Kreative leben und arbeiten in der Ecke — so zumindest die grobe Schätzung der Stadtverwaltung. Doch viele mehr hausen wie David unter dem offiziellen Radar in verlassenen Fabrikhallen. Für sie war die epische Industriebrache stets Schutzraum in einer völlig überhitzten und überteuerten Metropole — bis London im Jahr 2005 den Olympia-Zuschlag bekommen hat.
Planer, Investoren und Käufer in Krawatten schnüffeln seitdem durch Fish Island, denn mit nur 100 Metern zum olympischen Park ist dies für sie die große Chance auf Profite.
Neben den Billigateliers im „Stour Space“, einem alten Backsteinbau, der früher Taxizentrale und Prostituiertenquartier war, haben Entwickler teure Neubau-Architektur hochgezogen. Das Counter-Künstlercafé musste einem schicken Club weichen.
Die Atmosphäre ist eine andere. „Wenn wir eine Party feiern“, sagt David, „ist gleich die Polizei da. Gegen Lärm aus dem Nachtclub unternimmt sie nichts.“ Überwachungskameras ersetzen allmählich die Stacheldrahtzäune des Viertels. Die Mieten klettern rasant, seitdem die Stadt den unwegsamen Osten für Olympia urbar gemacht hat.
Seitdem fließen auch Menschen und Millionen in die Viertel Hackney und Stratford. Tausende neue Häuser rund um den Olympia-Park sollen die Wohnungsnot im West End lindern. Für Europas größtes Städtebauprojekt sind S-Bahn-Linien verlegt, Erdreich entgiftet und Bäche renaturiert worden.