Jahrhundert-Ereignis: Nishikori im US-Open-Halbfinale
New York (dpa) - Kei Nishikori jubelte, als hätte er gerade bei einem Challenger-Turnier die erste Runde gegen die Nummer 217 der Welt gewonnen.
Ein flüchtiges Lächeln, ein kurzer Blick in den New Yorker Abendhimmel - das war's. Die Arme reckte er nicht in die Höhe, sondern ließ sie in einem 45-Grad-Winkel nach unten hängen. Zum Netz schlurfte er mehr als dass er triumphierend schritt.
Soeben hatte der 24-Jährige bei den US Open mit dem zweiten Marathon-Match in anderthalb Tagen als erster Japaner in der Geschichte des Profi-Tennis das Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers erreicht. Dort wartet nun der Weltranglisten-Erste Novak Djokovic. Der serbische Schützling von Trainer Boris Becker setzte sich um 1.16 Uhr gegen seinen Kumpel Andy Murray mit 7:6 (7:1), 6:7 (1:7), 6:2, 6:4 durch.
Die Schlagzeilen aber gehörten an diesem Tag zunächst Nishikori. Die Statistik-Experten der ATP wussten zu vermelden, dass in der Historie der amerikanischen Meisterschaften vor der sogenannten „Open Era“ zuletzt im vergangenen Jahrhundert ein Japaner in der Runde der besten Vier stand: Ichiya Kumagae im Jahr 1918.
„Ich hoffe, das sind gute Neuigkeiten in Japan“, sagte Nishikori, der zu Beginn der Pressekonferenz noch kurz die ersten Glückwünsche auf seinem Handy durchging, einmal herzhaft gähnen musste und dann die vor der Brust verschränkten Arme auf den Tisch sinken ließ.
Spätestens mit seinen spektakulären Vorstellungen gegen den an Nummer fünf gesetzten Milos Raonic und Australian-Open-Sieger Stan Wawrinka ist das 68-Kilogramm-Leichtgewicht aus Shimane in diesen Tagen zu den Schwergewichten seiner Sportart aufgestiegen - auch wenn sein Trainer Michael Chang vor Selbstbeweihräucherung warnte. „Er hat mir gratuliert. Aber er hat auch gesagt: Es ist noch nicht vorbei. Bleib fokussiert und versuch dich zu erholen in den kommenden zwei Tagen“, schilderte Nishikori das Feedback des French-Open-Siegers von 1989.
Erst um sechs Uhr morgens war er am Dienstag ins Bett gekommen nach seinem epischen Fünf-Satz-Thriller über vier Stunden und 19 Minuten gegen Raonic. Nur anderthalb Tage später fand er offenbar schon wieder derart viel Gefallen an seinem Tun, dass er sich gegen Wawrinka erneut über fünf Sätze quälte. Am Ende zermürbte Nishikori die Nummer drei der Setzliste mit einem 3:6, 7:5, 7:6 (9:7), 6:7 (5:7), 6:4-Erfolg. Und war vier Minuten schneller als gegen Raonic.
„Ich hatte ein bisschen Jetlag, so etwas habe ich auch noch nie erlebt. Ich war ein bisschen müde, aber ich liebe es, fünf Sätze zu spielen“, sagte Nishikori, der nach einer Fußverletzung erst wenige Tage vor Turnierbeginn wieder mit dem Training begonnen hatte.
In seiner Heimat ist der 1,78 Meter große Athlet schon seit Jahren ein Superstar, nun hat er auch auf der größten Tennis-Bühne der Welt sein Potenzial ins Schaufenster gestellt. Mit fünf fängt er an, Tennis zu spielen. Im Alter von 14 Jahren verlässt er seine Heimat und wird fortan in der Akademie von Trainer-Guru Nick Bollettieri in Florida geformt und getriezt. Er zählt zu einer kleinen Gruppe auserwählter Spieler seines Landes, die von Sony-Mitbegründer Akio Morita finanziell unterstützt werden.
Am Anfang spricht er kein Wort Englisch, teilt sich mit Zachary Gilbert, dem Sohn von Ex-Profi Brad Gilbert, ein Appartement und hat nach drei Jahren erstmals Heimweh. „Vorher hatte ich keine Zeit nachzudenken. Ich durfte auch nicht zu Hause anrufen“, erzählte Nishikori vor zwei Jahren dem „Tennismagazin“. Zielstrebig und diszipliniert arbeitet er Jahr um Jahr an sich und schafft im Mai 2014 als erster Japaner den Einzug in die Top Ten - und wird nach den US Open vermutlich wieder dorthin zurückkehren. Zu Hause anrufen musste er nach dem historischen Ereignis allerdings nicht. Seine Eltern reisen mittlerweile zu allen Grand-Slam-Turnieren an.