Die Dreßens aus Jülich Thomas Dreßen gewinnt Abfahrt auf der Streif: In Jülich ist nichts mehr wie es war

Seit Thomas Dreßen (24) aus Mittenwald in Oberbayern am Sonntag die berühmteste Abfahrt der Welt in Kitzbühel gewonnen hat, ist nichts mehr wie es war. Auch nicht bei den Großeltern im Kreis Düren.

Foto: Dreßen/privat

Jülich. Eigentlich kommt Thomas Dreßen aus Mittenwald, einer Markt in Oberbayern, direkt an der Grenze zu Österreich. Fern von Nordrhein-Westfalen. Seit der 24 Jahre alte Deutsche am Sonntag aber völlig unerwartet die Ski-Abfahrt auf der berühmten Streif in Kitzbühel gewonnen hat, will jeder ein Stück Dreßen. Und NRW hat dabei ganz gute Argumente: Dreßens Großeltern wohnen in Jülich.

Foto: Dreßen/privat

Dort, im Kreis Düren, ist auch Vater Dirk aufgewachsen, der mit 43 Jahren bei einem tragischen Seilbahnunglück in den Ötztaler Alpen in Sölden ums Leben gekommen ist. Im September 2005 war das. Dirk Dreßen hatte seinen Lebensmittelpunkt nach Mittenwald verlegt und dort seine Ski-Trainerkarriere gestartet. „Er war mit einer Trainingsgruppe aus dem Schwarzwald in Sölden“, erzählt Oma Sigrid. „Es war an einem Sonntag, wir hatten Thomas in aller Frühe ins Internat in Österreich gefahren, waren auf dem Heimweg, als wir von einem Seilbahnunglück erfuhren.“ Ein Hubschrauber hatte über der Seilbahn einen 750 Kilogramm schweren Betonkübel verloren. Eine Gondel stürzte in die Tiefe, aus weiteren Gondeln wurden Skifahrer herausgeschleudert. Neun Menschen starben, darunter Dirk Dreßen. Thomas war erst elf Jahre alt.

Vorbei. Aber nicht vergessen. Thomas Dreßen trug auch bei seiner Abfahrt am Sonntag, die ihn nun sein Leben lang verfolgen wird, den Helm, der dem Vater gewidmet ist. Die Zahl 44 bildet den Mittelpunkt des Kopfschutzes. Das D ist der vierte Buchstabe im Alphabet, zweifach steht die 4 für Dirk Dreßen. „Der Papa fährt immer mit“, hat Thomas Dreßen schon oft gesagt. Es sind die Geschichten, die die Medien lieben. Vor allem jetzt, seit alles über Dreßen zusammenbrach, als hätte jemand dessen Karriere-Motor frisiert.

Oma Sigrid hat den Auftritt des Enkels in Jülich am TV-Gerät verfolgt. „Ich war übernervös. Ich habe in den Himmel geschaut und gesagt, bitte, Dirk, pass auf ihn auf. So wie ich es immer mache“, sagt sie und wischt sich ein Tränchen aus den Augen. Opa Gerd erinnert sich, wie ihr Sohn Enkel Thomas ins Gebet genommen hat, als dessen Karriere als Skirennläufer Fahrt aufnahm. „Das Höchste im Abfahrtsport ist es, einmal das Rennen in Kitzbühel zu gewinnen.“ Die Großeltern sind überzeugt, dass Thomas das verinnerlicht hat.

Das Telefon klingelt in Jülich ununterbrochen. Die Dreßens und ihre Enkelsöhne Thomas und Michi — Letzter ist zwei Jahre jünger und hat das Design des Rennhelms seines Bruders gestaltet — sind in Jülich bekannt. Gerd Dreßen führte 35 Jahre lang einen Friseursalon, den er 1998 aufgab. Er war begeisterter Ski-Langläufer. Und lief Marathon. Oma Sigrid hat Handball gespielt. In den Ferien reisten sie mit den Enkeln durch Europa. Sommer wie Winter. Wenn Thomas ins Trainingslager fährt — vier Jahre ging er im österreichischen Neustift auf die Skihauptschule, fünf Jahre war er auf dem Skiinternat in Saalfelden — verabschiedet er sich von den Großeltern am Telefon. Oma Sigrid reist diese Woche nach Mittenwald. Mit einem großen Banner wird sie am Samstag in Garmisch-Partenkirchen das letzte Rennen von Thomas vor dem Start zu den Olympischen Spielen in Südkorea verfolgen.

Olympia. Es geht gleich weiter. In drei Wochen schon steigt die Abfahrt in Pyeongchang. Und plötzlich kommt Dreßen für eine Medaille in Frage. „Wenn du Kitzbühel gewinnst unmittelbar vor Olympia, dann bist du einer der Favoriten“, sagte Bundestrainer Mathias Berthold. Markus Waldner, Renndirektor des Skiweltverbandes sagte: „Hier gewinnen nur die Superstars, nie ein Außenseiter. Er ist jetzt schon eine Legende.“

Dreßen ist Formel 1- und Bayern-Fan, er mag es schnell, natürlich. Er ist ein Strahlemann. „Ich bezeichne mich immer noch als Außenseiter. Bei Olympia war ich noch nie“. Im Weltcup war es erst der siebte DSV-Abfahrtssieg bei den Herren, der erste seit Max Rauffers Erfolg in Gröden vor 13 Jahren und der erste auf der legendären Streif seit 39 Jahren. „Krass, krass, krass. Ein Rennen gewinnen und dann noch Kitzbühel, das ist ein bisschen kitschig“, sagte Teamkollege Andreas Sander, 28. „Vielleicht gewinnt er dieses Jahr zwei Rennen: Das sind dann Olympia und Kitzbühel.“ Auch Sander hat NRW-Berührungspunkte: Er wuchs im westfälischen Ennepetal-Rüggeberg auf. Mit dem Skisport begann er im Alter von zwei Jahren auf der heimischen Teufelswiese. Und entwickelte sein Talent bei Besuchen in den Alpen.

Was jetzt aus Dreßen wird? „Wir wollen nicht, dass Thomas an die hundert Prozent rangeht, sondern dass er in einem Bereich ist, in dem er sich sicher fühlt und gute Attacke fährt“, sagt Trainer Berthold. „Es bringts nichts, sich am absoluten Limit zu bewegen.“ So hat Berthold seine Podestpotenzial-Fahrer geformt, nicht nicht mal vier Jahren: Josef Ferstl (29) raste in Gröden zum Sieg im Super-G, Sander war in Kitzbühel lange auf Top-Drei-Kurs und beendete das Rennen auf Rang sechs. Es war das beste Abfahrts-Resultat seiner Karriere. Dreßens Kurve zeigt am steilsten nach oben. „Das geht ja jetzt erst richtig los für ihn“, sagte Sepp Ferstl. der heute 63 Jahre alt und deutscher Kitzbühel-Sieger 1978 und 1979 ist, über Thomas Dreßen, der mit Freundin Birgit (eine Österreicherin) nun in Gmunden am Traunsee, 75 Kilometer östlich von Salzburg lebt.