Interview Toni Schumacher ist sich sicher: „Wenn Neuer nichts passiert, ist er die Nr. 1“

Torwart-Legende Toni Schumacher über seine große Karriere, Karius’ Patzer und die Frage nach dem deutschen WM-Torwart.

Foto: Witters

Herr Schumacher, dass wir das Interview mit der Frage nach Loris Karius, haben Sie doch geahnt, oder?

Toni Schumacher: Total überrascht bin ich nicht. Der Fallrückzieher von Bale war unhaltbar - obwohl mein Credo früher war: Es gibt keine wirklich unhaltbaren Bälle.

Wir dachten eher an die beiden anderen Tore.

Schumacher: Der Abwurf in den Fuß von Benzema war ein krasser Fehler, da muss man nicht drumherum reden. Links standen viele Spieler frei, die viel besser anspielbar waren. So ein Ding wie bei dem Weitschuss passiert vielen Torhütern mal, das Bittere ist eben, dass es ihm in einem Champions-League-Finale passiert ist, bei dem die ganze Welt zugeschaut hat.

Und jetzt hat die ganze Welt Mitleid und tröstet ihn. Wie war das damals bei Ihnen, als sie im WM-Finale 1986 gegen Argentinien eine Flanke nicht erwischt hatten?

Schumacher: Mitleid? Wollte ich nie. Damals in Mexiko habe ich mich nach dem Spiel noch auf dem Platz hingestellt und den Journalisten gesagt: Ich habe gehalten wie ein Arsch. Thema durch. Und das entscheidende Tor von Buruchaga zum 2:3 habe ich mir gleich noch mit angekreidet — das war eine Eins-gegen-Eins-Situation, eine meiner Stärken. Ich bin mit Fehlern immer offensiv umgegangen. Mir musste keiner sagen, was ich falsch gemacht hatte — ich habe mich immer sehr streng analysiert.

Sergio Ramos hat Karius kurz vor dem ersten Tor einen Ellbogenschlag verpasst. Wir haben uns vorgestellt, wie Sie darauf reagiert hätten.

Schumacher: Und?

Ramos hätte bei nächster Gelegenheit die passende Antwort bekommen.

Schumacher: Oder er hätte sich gar nicht erst an mich rangetraut. Es gab nur zwei Bundesligastürmer, die bei hohen Bällen immer wieder das Duell mit mir gesucht haben: Dieter Hoeneß und Horst Hrubesch. Alle anderen kamen gar nicht mehr, nachdem ich zu Beginn des Spiels in den ersten Aktionen den Ball so rausgefaustet habe, dass klar war, wem der Fünfer gehört.

Wie geht es mit Karius weiter?

Schumacher: Ich hoffe, dass man ihn nicht der Möglichkeit beraubt, sich zu zeigen. Wenn Liverpool aber einen neuen Torwart holt, dann gibt es nur eins: Dann muss er woanders hingehen.

So dreht sich die Welt wieder schnell weiter.

Schumacher: Es hat sich einiges geändert. Unsere Jungs in Köln sind abgestiegen und wurden trotzdem wohlwollend verabschiedet. Heute sind die Leute noch mehr Fan des Vereins, weniger Fan der Spieler, die nur noch kurz da sind. Ich habe 16 Jahre in Köln gespielt, Overath 14, Cullmann und Weber zwölf Jahre. Da wachsen Beziehungen. Wenn ich schlecht gehalten habe, musste ich mich zum Beispiel beim Bäcker rechtfertigen. Heute ist vieles anonymer. Als Fan hast du kaum mehr die Möglichkeit, den Menschen auf dem Platz kennenzulernen. Das spielt eine Rolle, wenn ein Spieler wie Karius Morddrohungen bekommt. Er hat ein Tor verschuldet! Hallo? Es gibt ja wohl Schlimmeres. Das, was Karius durchmacht, habe ich einmal erlebt: nach dem Fall Battiston (Schumacher knallte mit dem Franzosen bei der WM 1982 so heftig zusammen, dass dieser schwer verletzt wurde). Da war ich der Nazi, es wurde gedroht, meine Kinder zu entführen.

Die WM 1986 in Mexiko war das letzte Turnier, in dem Journalisten im gleichen Hotel wohnten wie die Spieler.

Schumacher: Experiment gescheitert. (lacht) Es gab eine gedachte Linie am Pool zwischen uns und den Journalisten , wie soll das bitte gehen? Wir hatten kein Privatleben mehr. Aber das brauchten wir. Ich habe mich schon damals gefragt: Warum lädt man nicht mal Boris Becker zum Tennis-Turnier ein oder spielt Golf mit Bernhard Langer? Heute gibt es das alles. Die Spieler dürfen nach Hause fahren oder die Familie treffen — damit genau das nicht passiert, was wir oft erlebt haben: Lagerkoller.

Das Ende beim DFB kam wie in Köln plötzlich nach ihrem Buch „Anpfiff“, in dem sie Interna ausplauderten und dem Fußball ein Dopingproblem bescheinigten.

Schumacher: Heute würde ich ein paar Dinge anders machen als damals. Zum Beispiel würde ich heute sagen: Komm, wir machen eine Pressekonferenz und klären auf, worum es mir geht. Es gab ja nur einen Vorabdruck und Zitate, aus denen dann schon der Skandal entfacht wurde. Ich hatte keine Chance, mich zu wehren und zu erklären, nicht in Köln, nicht beim DFB. Ich war plötzlich die persona non grata. Was ich nicht anders machen würde, sind die Dinge, die ich geschrieben habe. Meine Mutter hat mich so erzogen: ehrlich sein und fleißig sein. Und ich habe die Wahrheit geschrieben. Kein Doping im Fußball? Wie viele ehemalige Spieler haben denn inzwischen, Jahre später, gesagt: Ja klar, wir haben auch Captagon, Hustensäfte oder Ephedrine ausprobiert? Ich habe nie einstweilige Verfügungen gegen das Buch bekommen, weil alles gestimmt hat.

Oft wird über den Druck gesprochen, der auf den Profis lastet. Per Mertesacker. . .

Schumacher: . . .ich weiß schon: Sein Interview wurde auf die Aussage zugespitzt, dass er froh gewesen sei nach dem Ausscheiden bei der WM, weil der Druck dann weg gewesen sei. Dass er das so gefühlt hat, finde ich schade, auch wenn ich es für mich nicht nachvollziehen kann. Ich war eben ein ganz anderer Typ. Ich habe mir lieber noch zusätzlich Druck gemacht, indem ich mich mit dem Publikum oder den Gegnern angelegt habe, wenn ich merkte, dass ich einmal nicht zu hundert Prozent bei der Sache war. Und was meinen Sie, wie stressig das 1986 in Mexiko war mit Uli Stein im Nacken? Da durfte ich mir nicht mal im Training den kleinsten Fehler leisten.

Sie haben doch bestimmt damit gerechnet, dass wir auch nach Manuel Neuer fragen?

Schumacher: Klar. Ich habe mich mit Jogi Löw bei unserem Spiel in Freiburg über ihn unterhalten. Manuel ist unser bester Torwart und ein großartiger Junge, aber wenn er vorher nicht spielt, habe ich zu Jogi gesagt, kannst du ihn nicht mitnehmen. Gewundert hat mich, dass Neuer im Pokalfinale nicht gespielt hat — er war ja fit, denn er saß auf der Bank. Wenn man ihn mitnimmt nach Russland, dann nur als Nummer 1, und zwar von Anfang an. So hat es jetzt der Bundestrainer auch gesagt — und das ist keine Entscheidung für Neuer oder gegen Ter Stegen, sondern einzig und allein eine Entscheidung im Interesse der Mannschaft. Wenn ihm gegen Österreich nichts passiert, geht Neuer als Nummer 1 zur WM. Ich verstehe auch Neuers spezielle Motivation. Das wird seine letzte WM sein.

Ein bitterer Moment für André Ter Stegen. Müsste der nicht mal Ansprüche formulieren?

Schumacher: Ganz bitter. Er wird nicht aufbegehren, weil er weiß, dass das nichts bringt, schon gar nicht bei Löw.

Modernes Torwartspiel. . .

Schumacher: . . .beherrscht Manuel Neuer perfekt. Aber ein bisschen davon habe ich auch drauf gehabt, denn ich war ein Risiko-Typ, der weit vor dem Tor eingegriffen hat, um die Torchance zu verhindern, bevor sie überhaupt eine wurde. An meinen weiten Abwürfen habe ich wie besessen trainiert — heute heißt das schnelles Umschaltspiel. Und das ist immer noch eine echte Waffe, weil es unheimlich schwer ist, gegen eine geordnete Abwehr anzuspielen.

Früher waren Torwarte immer ein bisschen anders, Typen, die. . .

Schumacher: . . .Sprechen Sie es aus: Sie meinen bekloppt. Und das stimmt, denn für den Job musst Du ein bisschen verrückt sein. Wir werfen uns den Stürmern mit dem Kopf voran vor die Füße, wir räumen die Fehler der anderen weg.

Sie waren nicht nur auf dem Rasen ihrer Zeit voraus, sondern auch außerhalb. Sie haben sich psychologisch betreuen lassen.

Schumacher: Ja, und zwar zu einer Zeit, als das nun wirklich nicht angesagt war. Damals hätte man noch viel mehr als heute gesagt: Schumacher macht autogenes Training? Ist der krank? Doch ich wollte einfach alles tun, um der Beste zu sein. So bin ich zum autogenen Training gekommen und habe mich mental auf jedes Spiel vorbereitet. Man kann das auf alten Fotos sehen, wenn ich bei der Hymne die Augen geschlossen hatte. Mein Film im Kopf war: Ich bin der Tiger, und der Ball ist meine Beute.

Welche Beute bringt das DFB-Team aus Russland mit?

Löw: Deutschland ist nie zu irgendeinem Turnier gefahren, um nur ein bisschen mitzuspielen. Wir können wieder Weltmeister werden — aber das können die Spanier, die Franzosen und die Brasilianer auch. Zu meiner Zeit sind wir über den Kampf gekommen, wir konnten fighten und rennen, wir haben nie den Glauben an uns verloren. Ich habe damals schon gefühlt: Wenn wir jetzt noch richtig gut spielen können, wenn uns das mal jemand beibringen würde, dann wären wir das perfekte Fußballland. Und so ist es inzwischen gekommen, der Rumpelfußball, den uns der Franz immer vorgehalten hat, den gibt es so nicht mehr. Aber ehe Sie fragen: Ich würde nicht mit einem Nationalspieler von heute tauschen wollen. Wir hatten unsere Zeit, es war nicht so gläsern und viel echter. Wir waren gut und erfolgreich und hatten unseren Spaß, ohne dass es die ganze Welt mitbekommen hat.

Warum sind Sie nicht Trainer geblieben, nachdem Sie Jean Löring bei Fortuna Köln als ersten Trainer überhaupt in der Halbzeit entlassen hatte?

Schumacher: Ich fühlte mich gescheitert. Nicht als Torwarttrainer, aber Cheftrainer, das hat für mich nicht geklappt. Ich habe von meinen Spielern verlangt, was ich als Spieler von mir verlangt habe. Meinen Fleiß und Ehrgeiz als Maßstab für alle in unserem Kader angesetzt. Immer 100 Prozent geben — 80 oder 90 Prozent waren zu wenig. Das konnte nicht gutgehen. Ich war, was die Leidenschaft und den Ehrgeiz betrifft, extrem.